Wolfgang Denk über Susanne Wenger

EINBEZOGENHEIT Kunst und Religiosität im Regenwald Westafrikas 

1984 löste eine Reihe von seltsamen Koinzidenzen meinen Entschluss aus nach Nigeria zu reisen und dort die österreichische-schweizerische Künstlerin Susanne Wenger und ihre Arbeit in Oshogbo kennen zu lernen. Ich war vorher noch nie in Afrika gewesen, hatte mich in meiner Arbeit mit archaischen Kulturen und der Megalithkultur auseinandergesetzt, mich mit Indianerschamanen getroffen und in einschlägige Literatur eingelesen, was entsprechend in meine eigene künstlerische Arbeit der siebziger Jahre einfloss. Irgendwie war das Thema zuerst langsam und unmerklich an mich herangekommen, wurde aber durch die Übernahme der Ausstellungsorganisation "Susanne Wenger 70", 1985 im Wiener Künstlerhaus allmählich virulent. Ich betreue seitdem das Werk Susanne Wengers. Ambivalente Gefühle, die mich im Angesicht der vorerst radikal fremden, monumentalen, wild naturhaften expressiven Architektur der höhlenartigen Innenräume und riesenhaften Skulpturen in diesem dramatischen Urwald entlang eines zum Weinen schönen afrikanischen Flusses erschütterten, wurden besonders durch eine gleichzeitige verwirrende Vertrautheit verstärkt. Ich war nur an der Peripherie in jenen Kulturkreis getreten, der Susanne Wenger Jahrzehnte früher unentrinnbar fesselte.

Durch Susanne Wengers Leben und Arbeit in Afrika entwickelte sich, in völlig neuer globalkultureller Symbiose, die gleichzeitige Erhaltung und Neuaufladung von Tradition und Moderne, ästhetisch und geistig verschmolzen im Gesamtkunstwerk die Künstlerin. Es zeigte sich, dass Susanne Wenger, indem sie sich als vorurteilslos Lernende in den religiösen Kosmos der Yoruba einfügte, so wie sie sich schon im Kindesalter die Natur als eigene Universität auserkor, mehr erreicht hatte als jeder missionarische Kulturexport. Darüber hinaus hat ihre Ehrfurcht vor der Würde der durch die alte Hochkultur geformten Menschen zu einem vorbildhaften Akt an interhumaner und in weiterer Folge interkreatürlicher (Bäume und Tiere inbegriffen) Solidarität geführt.

Die spirituelle und profane Kraft des Yorubavolkes verbindet sich in Susanne Wengers Kunst nahtlos mit ihren europäischen Wurzeln, und zwar in einer durchaus problematischen Situation, die alle bekannten Schwierigkeiten des Lebens im heutigen Afrika in sich trägt. Als 1958 hohe religiöse Repräsentanten aus Oshogbo an Susanne Wenger herantraten, da der Schrein des Shonponna Kultkreises "Idi Baba" dem Zerfall preisgegeben schien, entschloss sie sich mit dem Wiederaufbau der Schreine zu beginnen. Sie sprach damals schon etwas Yoruba. Ein Haus im "brasilianischen" Stil in Oshogbo, das letzte und schönste Werk eines bekannten Yoruba-Baumeisters, war ihre neue Heimstätte geworden, und dort lebte und arbeitete sie bis zu ihrem Tode im Jahr 2009. Es bot ihr aber auch die Möglichkeit, die zahlreichen von ihr adoptierten Kinder zu beherbergen.

In Oshogbo, einer Stadt mit dreihunderttausend Einwohnern, im Zentrum der Yoruba-Region, heute die Hauptstadt des Oshun State, entstand in jahrzehntelanger Arbeit in einem der letzten Reservate uralten Regenwaldes, an den Ufern des Oshun-Flusses, eine Symbiose aus Architektur, Plastik, Malerei, Spiritualität, Natur und Kunst: der "Heilige Hain", die "sacred groves". Der Oshun durchfließt fast das ganze Yoruba-Gebiet, in Oshogbo jedoch ist das zentrale Heiligtum der Fruchtbarkeits- und Flussgöttin Oshun geweiht. Der Oshun entfaltet in den "sacred groves" aber auch eine Schönheit und Vielschichtigkeit, deren Kräfte Susanne Wenger unwiderruflich in ihren Bann zogen, ihr die Ruhe nach den psychischen Zerreißproben ihrer Initiationsjahre wiedergaben und den Nährboden aller späteren geistigen, physischen und künstlerischen Leistungen bereiteten. Die Begegnung und Freundschaft mit einem der letzten wichtigen Oshunpriester, Layi Olosun, löste insofern starke Veränderungen in Susanne Wengers Leben aus, als er ihr fast alle seine Kinder anvertraute. Susanne Wenger adoptierte auch Shangodare, einen der höchstinitiierten Priester des Donnergottes Shango, bereits im Alter von fünf Jahren.

Die "Sacred Groves" von Oshogbo

Ihre eigene Bautätigkeit in den "sacred groves" begann nach der Rekonstruktion des verfallenen "Idi Baba" Schreines 1963. Eine Gruppe von Tischlern und Maurern arbeitete mit ihr und erste Figuren und Plastiken aus Zement entstanden. "Zu dieser Zeit sind Termiten in den uralten Oshunschrein gekommen und haben ihn in kürzester Zeit fast zerstört", erzählte Susanne Wenger, "die Oshun Priesterin Iya Oshun aus Oshogbo, die jetzt schon lange tot ist, hatte nach mir geschickt. Ich sollte helfen." Ojewale Amoo und Laani begannen selbständig den Flussschrein Ojubo Oshogbo zu reparieren. Langsam, durch das Vorbild Susanne Wengers angeregt, entwickelten und entdeckten Handwerker, die an der Restaurierung des Flussschreins teilnahmen, ihr eigenes schöpferisches Potential. Holzschnitzer, Bildhauer, Zimmerleute, Schmiede und Maurer fanden sich zusammen und brachten ihre ererbten Fähigkeiten in das große Werk ein. Adebisi Akanji, der die Technik der Zementskulptur erlernt hatte und an Susanne Wenger weitergab, war als kongenialer Partner beim Bau der großen Skulpturen und Architekturen von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Die Bildhauer Buraimoh Gbadamoshi und Kasali Akangbe (Foto oben) entwickelten großes künstlerisches Talent. Von ihnen stammen die meisten Holzarbeiten im Heiligen Hain. Mama Adunnis (Adunni Olorisha = Ritualname Susanne Wengers) Arbeit übte starken Einfluss auf die Haltung vieler junger Yoruba-Künstler aus, obzwar sie jede direkte Lehrtätigkeit immer radikal ablehnte, da sie sich selbst als Lernende empfand. Ihre Sammlung von "New Sacred Art", so nennt sie die Künstlergruppe im Umfeld der Wiedererrichtung des Heiligen Haines, dokumentiert, dass ihre Dynamik die traditionelle Kunstfertigkeit ihrer Yoruba-Kollegen zu eindrucksvollen Werken angeregt hat, ohne ihnen einen europäisierten Stil aufzuzwingen - keine Afrikanisten. Wie nebenbei, ungewollt oder schicksalhaft vorgezeichnet, war mit der gegenseitigen Öffnung und dem Vertrauen ein geniales, vorbildliches Kunstwerk entstanden, ein Kontext, der die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern unausweichlich notwendig machte. Die kühnen Konstruktionen ihrer Skulpturen sind informell im Einklang mit den Naturformen, fließenden Formen, die teilweise in die Erde zurück und ebenso in die Wolken hineinwachsen. Die in ihrer Massigkeit fast schwebende Figur der Iya Moopo, der longenisch sich in den Himmel reckende Ela (Jünglingsaspekt des Orakelgottes Ifa), die lianenartig verschlungene, allegorische Skulpturengruppe Alajere/Obaluaye/Shonponna-Mythos erzeugen künstlerische und spirituelle Energiefelder. Das heilige Töpferfeld, eine mit Elefantengras bewachsene Lichtung des urzeitlichen Waldes, ist dramatischer Schauplatz für drei der wichtigsten Skulpturen in Susanne Wengers Schaffen. Hier werden auch die Bezüge der ausgewählten Plätze zueinander am besten sichtbar.

Das Ogboni-Kulthaus entstand aus einem ehemaligen Schulhaus, das fast völlig niedergerissen wurde und von dem nur die Rückwand blieb, einer Yoruba-Tradition gemäß, die besagt, dass von allem, was man zerstört, ein Same zurückbleiben soll. Während der Arbeit in den "sacred groves" verlor für Susanne Wenger die Unterscheidung der Kategorien wie Architektur und Plastik immer mehr an Bedeutung, wie auch in ihrem Verständnis Religion, Mythos, Spiritualität, Philosophie und Kunst zu einem unauflöslichen Ganzen verschmelzen. Der "Heilige Hain von Oshogbo" ist jedenfalls ein ganz großes Werk, eine im Einklang mit der Natur orientierte Kunst, dessen Erhaltung wir Susanne Wenger verdanken, mag sie sich selbst auch symbolhaft als "Sprachrohr der Götter" bezeichnen.

Ein Hymnus an die Mythologie des Yorubavolkes und die allmenschliche Spiritualität sind die "sacred groves" auch durch den unbedingten Willen der Künstlerin, die letzten alten Bäume des Regenwaldes zu schützen und in den gesamtkulturellen Kontext zu integrieren und so für deren Weiterleben Sorge zu tragen.