Biografische Skizzen
GRAZ
Die dramatischen Ereignisse der europäischen Geschichte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts beeinflussten Susanne Wengers Leben einschneidend. Sie wurde am 4. Juli 1915, während der erste Weltkrieg tobte und das österreich-ungarische Imperium noch bestand, in Graz geboren. Ihr Vater war Berner Bürger und unterrichtete englisch und französisch in einem Grazer Gymnasium, ihre Mutter war die Tochter eines hohen k.u.k. österreichischen Offiziers aus polnischer Garnison. Sie besuchte in Graz die Volksschule und fand später Aufnahme in die Kunstgewerbeschule, wo sie sich vorwiegend mit Keramik beschäftigte. Im Haus ihrer Eltern setzte sie sich frühzeitig mit religiösen Problemen auseinander. Schon damals fühlte sie sich zur Natur, und im Besonderen zu Bäumen, welche für sie ein Sinnbild des Göttlichen darstellten, stark hingezogen.“
WIEN
Später in der Metropole Wien, auf dem Wege Künstlerin zu werden, blieben diese frühen Seelenverwandtschaften für sie von bleibender Wichtigkeit. Zu ihrem nur sporadischen Besuch in der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt bemerkt sie: "Oft ein Monat oder mehr war ich allein in den Bergen, nur mit einem kleinen Skizzenblock in der Tasche." Aber die Cafes am Naschmarkt waren ihr ebensowenig fremd, wie die damalige Wiener Kunstszene. Immerhin hinterließ sie durch ihre außergewöhnlich weibliche Präsenz und ihre Künstlerfreundschaften eine starke Spur im Anektotenschatz der Zeitbiographen, die ihre künstlerischen Qualitäten allgemein geschätzt haben. Sich in die Einsamkeit der Natur zurückzuziehen, war jedoch für sie eine unverzichtbare Energiequelle von Kindheit an. 1933-1935 studierte sie an der Wiener Kunstakademie in der Meisterklasse für Freskomalerei bei Prof. Andre, bei Prof. Boeckl setzte sie ihr Studium fort. 1946 war sie dabei, als der berühmte Wiener Art Club gegründet wurde. Dazwischen lag aber noch eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte, der Zweite Weltkrieg. Im von der Nazi-Barbarei erschütterten Wien, als viele ihrer Freunde verfolgt wurden und sie als "entarteter" Künstler in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte, rettet sie nur ihr Schweizer Pass vor dem Arbeitslager. Die als Verächtlichmachung gedachte Ausstellung "Entartete Kunst" gab ihr jedoch Gelegenheit die Werke des "Blauen Reiter", der "Fauves" und Expressionisten erstmals im Original zu sehen. Um der unglaublichen Verrohung der nationalsozialistischen Herrschaft den Rücken zu kehren, zog sie sich in eine innere Emigration zurück und absolvierte Zeitreisen der Phantasie, als sie in großer Zahl Bücher über alte Religionen und ferne Kontinente las, welche ihr ein befreundeter jüdischer Buchhändler namens Lany überlassen hatte. Lany, der einst einen Künstlerkreis um Kokoschka und Schiele aufgebaut hatte, wurde im KZ ermordet. In den Bombennächten überfielen Susanne Wenger starke, archaisch farbige Träume. Halbwach notierte sie diese Träume und hielt sie in Buntstiftzeichnungen fest. Leider sind diese nicht erhalten geblieben. Damals lag Afrika für sie in unendlicher Ferne, jenseits allen Vorstellbaren. In der Aufbruchstimmung nach den deprimierenden Kriegsjahren war Susanne Wenger sehr aktiv. Sie schuf unter anderem auch eine populäre Tier-Cartoon Reihe für eine kommunistische Jugendzeitung: "Stefan und Burgerl, zwei Dackel in steirischer Tracht". Ihren Lebensunterhalt bestritt sie mit der Herstellung von Hampelmännern. Damals teilt sie sich ein Atelier mit Hans Fruhmann. Drei der Ölbilder, die Susanne Wenger in den Jahren 1946/1947, der sogenannten "graue Periode", malte, waren: "Das Liebespaar", "Die Heimkehrer" und vor allem die Abendmahl-Variation "Die Vögel sind nicht eingeladen". Sie zeigen formal schon die Grundmuster, jene charakteristisch expressiven "Überlängen" der Figuren, die bis in ihre reifen Arbeiten sichtbar bleiben. Inhaltlich werden starke mythologische und archaische Züge spürbar, die einerseits auf die überstandenen Leiden hinweisen, andererseits aber die zukünftigen "metaphysischen Obsessionen" ahnen lassen. "Das Liebespaar" hält sich in stummer Schmerzlichkeit zärtlich umschlungen, das Boot und die Viadukte sind Symbole des Scheidens in diesem düsteren Strand-Szenario, Liebe wird nur noch als Vorbote des endgültigen Abschieds, des Todes, dargestellt.
Früher hatte sie kleine steirische Landschaften gemalt, mit dunklen, geheimnisvoll anmutenden Baumgruppen, deren mystische Ausstrahlung einen Kritiker zu dem Terminus "Heiligenbilder" veranlasste. Intensiv, ausdruckstark und sensibel sind auch die Bleistiftzeichnungen, die in den späten vierziger Jahren entstanden. Innerlich löste sie sich jedoch allmählich von Wien, um wie sie später äußert: "der Gefahr des Selbstgenügens" zu entgehen. Nur langsam hatte sie sich von den Folgen eines schrecklichen Unfalls erholt. Der Absturz in einen Liftschacht wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden.
ROM – ZÜRICH – PARIS
Wieder genesen, reiste sie nach Rom, Sizilien und später nach Zürich, wo sie in der Galerie "Des Eaux Vives" mit einigen der berühmtesten Künstler der damaligen Zeit, wie Hans Arp, Sophie Taeuber, Piet Mondrian und Paul Klee ausstellte. 1949 beschloss Susanne Wenger nach Paris zu gehen. Sie war von den Eindrücken des "rasiermesserscharfen" Intellekts der Pariser Künstlerschaft soweit beeindruckt, dass ihrer Malerei immer abstrakter wurde, menschlich fühlte sie sich aber von den Clochards mehr angezogen. Die damals fünfunddreißigjährige Künstlerin, auf dem Wege zum Erfolg, traf in Paris eine folgenschwere Entscheidung, welche ihr Leben in völlig neue Bahnen lenkte. Sie begegnete dem Sprachforscher Ulli Beier, der wegen eines Projektes mit behinderten Kindern in Paris weilte, heiratete ihn und beschloss, mit ihm Europa hinter sich zu lassen und nach Afrika aufzubrechen. Ein Platz inmitten des Stammesgebietes der Yoruba hatte schicksalshaft auf sie gewartet, ein Platz der ihr die ultimative Selbstfindung und Selbstverwirklichung brachte und dadurch eine der außergewöhnlichsten Künstlerpersönlichkeiten reifen ließ.
AUFBRUCH NACH AFRIKA – IBADAN
Aber noch war es nicht so weit…1951 bezog sie ein kleines Gästehaus auf dem Universitätsgelände in Ibadan, wo die erste Universität Westafrikas in ehemaligen Militärbaracken untergebracht war.
Sie berichtet in einem Interview über die erste Zeit in Nigeria: „Von der ganzen kolonialen Situation in Nigeria hatten wir keine Ahnung, uns wurde nur ein Zettel mit dem überreicht, was wir mitnehmen sollten. Ulli hatte das alles nicht und meinte: ‘Irgendwie werden wir uns da schon durchschwindeln’ .Der Vizekanzler der Universität gab uns ein Gästehaus auf dem Gelände, weil er gehört hatte, dass ich Künstlerin sei. Er meinte, ich würde solitude, Einsamkeit, brauchen. Die koloniale Europäerclique war untereinander hilfsbereit, davon profitierte selbst ich. Die Engländer hatten sich in den Kolonien vollkommen abgesondert, dadurch schadeten sie anscheinend kulturell weniger als die Franzosen. Die Pogrome gegen die traditionelle Religion, die 1917 durchgeführt wurden, zeigen allerdings von der ungeheuren psychologischen Taktik und Brutalität, mit der das Empire zusammengehalten wurde. Als dann die Unabhängigkeit kam, konnte man feststellen, dass die Kolonialherren den Einheimischen aller Kolonien das nötige Selbstvertrauen, das heißt die Fähigkeit zur Selbstverwaltung, sorgfältig abgewöhnt hatte. Aber in Missionsschulen schlecht oder nicht ausgebildet, waren die Leute, die die ersten Regierungen bildeten, noch bessere Politiker und bessere Menschen als alle späteren.
Ulli Beier war von Phonetik auf „Adult Education“ umgestiegen und fuhr, begeisterter Lehrer ohne Dünkel, der er war, auf einem Lastwagen auf denkbar schlechten Straßen in viele Yoruba-Städte und half bei allen möglichen Bildungsnotwendigkeiten. Wir beide erhofften uns Nigerias politische Unabhängigkeit. Als sie dann 1960 kam, saßen in vielen Ämtern Ullis frühere Schüler, die ihrerseits ihm als Gegenleistung, Fragen über traditionelles Leben und Denken beantwortet hatten. Heutzutage könnten sie es nicht mehr. Waren sie doch erst die erste Generation, die von der Tradition weggelockt worden war. Durch sein begeistertes Interesse gab er Ihnen Stolz und Einsicht in die ethischen Schönheiten ihrer Welt zurück. Diese Männer aus Ullis vielen Klassen waren dann zu Distriktoffizieren und anderen Obrigkeiten geworden, die selbst für mein vom Fortschritt kaum belecktes Leben gelegentlich nützlich waren und mir sehr geholfen haben. Wir wollten dann von Ibadan und dem künstlichen Uni-Gelände weg und sind in Ede gelandet, wo ich nach vier Tagen bereits Teil der Kultur war. Diese alten Leute, die mich vor allem faszinierten, haben schon „voraus gewusst“, was ich einmal machen werde. Die Liebe, die zwischen diesen meinen ersten rituellen Müttern und Vätern und mir sofort da war, ist ein Phänomen von tiefster Bedeutung. Sie „erinnerten voraus“, was ich noch gar nicht wusste und in vier Jahren Ede, vier Jahren Ilobu und dann Oshogbo schaffen würde.“
Anfang 1951, auf einer der Reisen weiter ins Landesinnere, in Jebba, am Niger, nördlich des Yoruba-Territoriums, wo die Regenwaldzone schon längst einer steppenartigen Landschaft gewichen ist, warf eine schwere Lungentuberkulose Susanne Wenger für vierzehn Monate aufs Krankenbett. Während der Krankheit versuchte sie sich durch das Lesen anthropologischer Bücher ein Bild der Yoruba-Kultur zu machen, berichtet Ulli Beier. Sie malte auf kleinen Holztafeln Ölbilder auf denen Menschen, Tiere und Götter und die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft eine wichtige Rolle spielten. Die Mythen sämtlicher Völker und Zeiten vermischten sich in diesen Bildern zu einem wilden Epos von Schöpfung, Tod, Opfer und Wiedergeburt. Nach ihrer Heilung und einer Europareise 1952, zog sie in die Kleinstadt Ede. Dort konnte sie sich von der schweren Krankheit, die sie fast getötet hätte weiter erholen und das Tor zu neuen Räumen ihres Bewusstseins öffnen. Susanne Wenger spricht später von ihrer "Initiationskrankheit", einem in der Literatur über Schamanismus weltweit nachgewiesenen "Einstiegsphänomen".
Angezogen durch den tiefen Ton der Igbin-Trommeln im Morgengrauen, kam es in Ede zu der Begegnung mit Ajagemo, dem mächtigen Oberpriester und Repräsentanten des Lichtgottes Obatala, ihrem Lehrmeister Obatala", schreibt die Künstlerin in dem von Gert Chesi fotografierten Buch "Susanne Wenger - Ein Leben mit den Göttern" (Perlinger Verlag 1980): "Er ist der Gott der transzendenten Zeugung, die der physischen prägenetisch vorausgeht. Obatala ist der Protokünstler, der mit feinstofflichen Mitteln die Materie bestimmt. Als Tier ist er der weiße Elefantenbulle oder die Pythonschlange." Diese beiden Gestalten spielen als Auslöser der in spontan erregten Rhythmen entstehenden Arbeiten Susanne Wengers eine tragende Rolle - als Symbole der metaphysischen und metapsychologischen Lichtphänomene. "Vergleichbar dem Buddha Amithaba ist er die Personifikation des transzendenten Lichtes... Weiß ist die Summe aller Farben im Licht.Das Obatalaritual wird ja hauptsächlich im Morgengrauen gemacht, da steigt der Gott aus der metaphysischen Dimension in die irdische herab", sagt Susanne Wenger in ihren Bericht über die damaligen Ereignisse. "Durch die Teilnahme an den Ritualen, damals war ich der Yoruba-Sprache noch nicht mächtig, drang ich gleichsam durch die Haut begreifend, plötzlich und schockartig, tief in die Geheimnisse der Orisha-Religion ein und wurde letztlich eingeweiht."
Ulli Beier über die religiösen Vorstellungen der Yoruba: „Die Yoruba wissen, dass das Göttliche sich auf verschiedenste Weise manifestieren kann, dass Bäume, Tiere, Flüsse, Felsen und Menschen einem Orisha als Medium dienen können. Sie wissen, dass die Orisha mit ihren verschiedenartigen Temperamenten alle Teilaspekte einer einzigen göttlichen Kraft sind und die Menschen nur dann ein sinnvolles Leben führen können, wenn sie im Einklang mit dem ihrem eigenen Temperament gemäßen Orisha leben. Kein heiliges Buch reguliert die Beziehung zwischen Gott und Mensch, diese muss täglich neu erarbeitet werden. Durch das Kolanuss-Orakel, das jeder Mensch jeden Tag an seinem eigenen Altar ausführt, tastet er sich an den Gott heran, setzt sich mit ihm auseinander und räumt kleine Unstimmigkeiten durch Opfergaben aus dem Weg. Wie in einer Ehe, darf keiner der beiden Partner die Liebe des anderen als Selbstverständlichkeit voraussetzen. Die ununterbrochene Beschäftigung mit dem Orisha, das fast pausenlose Ritual erfordern viel Kraft und Integrität, gleichzeitig bereichern sie das Leben des Menschen in dem Maße, in dem er an dem Verhältnis zu seinem Gott arbeitet.Äußerst schwierig und gleichzeitig sehr ekstatisch wird das Leben für den, der auserkoren ist, den Gott zu tragen und zu verkörpern. Die Initiation eines Priesters stellt eine Belastungsprobe für den menschlichen Geist dar, an der ein Unvorbereiteter zerbrechen kann. Einer solchen Belastungsprobe wurde Susanne Wenger ausgesetzt, als sie den Obatala Priester Ajagemo traf.“
Nach letztlich zehn Jahren extrem aufregender initiatorischer Erlebnisse und der erforderlichen und unvermeidlichen Isolation, hat Susanne Wenger sich immer stärker ins soziale Leben der Yoruba integriert. Sie trat mit den wichtigsten Repräsentanten der Yorubakulte in Verbindung, so auch mit der Iya (Mutter) Shango, einer Tante des Stadtkönigs Timi von Ede und Priesterin des Donnergottes Shango. Diese initiierte sie in die spirituelle Geheimgesellschaft Ogboni, welche auf einen uralten Erdkult zurückgeht. Susanne Wenger sollte fünfzehn Jahre später, in Oshogbo eine dreischiffige, außen und innen reich skulpturierte Ritual-Halle am Iledi Ontotoo, das Ogboni-Kulthaus, eines ihrer architektonischen Hauptwerke, errichten. Die Figuren an den äußeren Wänden veranschaulichen eine ähnlich komplexe Interaktion der "sacred forces", der heiligen Kräfte, wie die großen Wachsbatiken. Am Ogboni- Kulthaus wird ihre Philosophie der Einbezogenheit und des Einbeziehens, das traumwandlerische, transkulturelle Verständnis mit den Yorubakünstlern und Handwerkern fast am ausgeprägtesten deutlich.
Als Susanne Wenger 1954 in Paris wild dramatische Ölbilder ausstellte, waren dies die ersten Interpretationen der Rituale, Opfer und Mythen, die sie aus Begeisterung, aber auch um die ungeheure psychische Belastung auszubalancieren, gemalt hatte.
Nach einer Prophezeiung des Priesters Ajagemo sollte sie jedoch die heiligen Lehmschreine wiederaufbauen, welche vom Untergang bedroht waren. Susanne Wenger spricht nur in Andeutungen über diese, sie bis an die Grenzen aller geistigen und körperlichen Kräfte belastenden Begebenheiten: "...aber solche Dinge darf, kann und will man nicht zerreden, die sind einfach lebensmäßig da. Das ist ein Tabu, das in sich ruht. Das sind Grenzgebiete zwischen dem physischen und dem metaphysischen oder dem intellektuellen Bewusstsein und dem meta-intellektuellen Bewusstsein. Diese Überschreitungen, die ein wesentlicher Inhalt der Yorubareligion sind, stehen schon von Natur aus unter Tabu. Im Rahmen der Yorubakultur und
-religion ist das Tabu eine ungeheuer starke Kraft, gegen die man nicht verstößt, solange man einbezogen ist. Diese primären Wahrheiten sind existenziell wichtiger als alles was man über sie sagen könnte, da sie sich in den Erfahrungsreservoirs der Sprache >räumlich früher als das Wort< abspielen."
Nochmals Ulli Beier, der naturgemäß eine andere Perspektive der Ereignisse hat: "Schließlich fand die Begegnung zwischen Susanne Wenger und dem Ajagemo zu einer Zeit statt, da die Yoruba Religion von allen Seiten bedrängt und bedroht wurde. Der Ajagemo ahnte wohl, dass ihm kein Priester gleichen Formats nachfolgen würde. Eben dieses Wissen um den drohenden Untergang einer großartigen Kultur gab diesem Menschen tragische Größe, Weisheit und fast übermenschliche Intuition. Beim alljährlichen Obatala-Fest musste im Königspalast ein altes Passionsspiel aufgeführt werden, in dem ein Krieg durch Tanz dargestellt wird, der mit der Gefangennahme des Ajagemo endet. Er wird dann vor den König geschleppt, der ihn - anders als Pontius Pilatus in jener anderen Passion - nicht zum Tode verurteilt, sondern freikauft. Ich habe dieses Fest jahrelang immer wieder miterlebt. Bei jedem Fest wurde der Ajagemo, der seine Rolle ja nicht gespielt, sondern gelebt hat, tragischer und vergeistigter. Uralte Mythen wurden hier lebendig, die geistige Energie des Yoruba wurde durch dieses Ritual wie ein Akkumulator wieder aufgeladen, durch diesen unglaublichen Menschen, der in diesen Augenblicken wirklich zum Gott wurde. Bei diesen Festen wird der Priester normalerweise durch die kollektive Konzentration und Energie der Gemeinde getragen. Der Ajagemo musste erleben, dass diese Gemeinde jedes Jahr kleiner wurde, dass die großartigen alten Leute langsam wegstarben, dass eine junge Generation heranwuchs, die mit ihrer „Schulweisheit“ immer oberflächlicher und zynischer wurde. Jedes Jahr musste der Ajagemo also mehr eigene Kraft finden und investieren, um das Fest überhaupt noch durchführen zu können. In dieser schwierigen Situation bedeutete das Erscheinen von Susanne Wenger eine wesentliche Stärkung seiner Position: nicht nur, weil sie den zerfallenden Obatala Schrein am Markt wieder aufbaute, oder weil der König ihr einen gewissen Respekt zollen musste, sondern vor allem, weil sie ihre eigene geistige Energie vollkommen in diese Rituale einfließen ließ.
Ajagemo schien von Anfang an entschlossen, sie in die Mysterien des Kultes einzuweihen und sie zu einer wahren Olorisa zu machen. Ob er wusste, was er da von ihr verlangte, ist nicht klar. Konnte er ahnen, um wieviel schwerer eine solche Initiation für einen Außenseiter war? War er sich der Tatsache bewusst, dass dieser geistige Prozess für Susanne Wenger durchaus gefährlich werden konnte? Die Künstlerin kann von den Erfahrungen dieser Jahre bis heute nur in Andeutungen reden. Kern der Yoruba Religion ist nicht die alltägliche Moral, die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen zu ordnen ist Sache der Vorfahren, nicht der Götter. Initiation, Ritual und Trance der Yoruba Religion dienen dazu, die Grenzen zwischen der diesseitigen und jenseitigen Welt blitzartig zu durchbrechen. Durch die Trance werden die Grenzen der menschlichen Existenz für einen kurzen Moment überschritten. Der Mensch verschafft sich durch diese kühne Grenzüberschreitung die Gewissheit, dass er Teil des schöpferischen Prozesses und ein Teil von Gott ist. Darauf beruht sein Stolz, dass er imstande ist, mehr als ein Mensch zu sein. Darin, und im Mut, sieht er seine Größe die natürlichen Grenzen seiner Natur zu durchbrechen. Die Trance ist wie eine Invasion von menschlichen Wesen in den Bereich, der normalerweise den Göttern gehört. Von diesen kurzen Streifzügen kehrten sie mit göttlicher Beute zurück..."
In den folgenden Jahren konnte die Künstlerin ihr geistiges Gleichgewicht nur dadurch erhalten, dass sie das religiöse Erlebnis, das „metaphysische Abenteuer“, immer sofort in schöpferische Tätigkeit umsetzte. Die Ölbilder, die sie in diesen Jahren malte, waren von einer fast unerträglichen Intensität. Sie stellen energiegeladene Rituale dar und sind mit einer beinahe wilden Spachteltechnik in düster leuchtenden Farben ausgeführt. In diesen Bildern lassen sich die seelischen Spannungen jener Jahre deutlich ablesen. Die Initiation, die sich über Jahre erstreckt, wurde zwar nicht wie das früher einmal der Fall war, in der totalen Abgeschiedenheit eines Initiationshauses vollzogen, doch musste Susanne Wenger jahrelang in einer geistigen und seelischen Isolation leben. Europäische Besucher empfing sie in dieser Zeit praktisch nicht mehr.
Der Ajagemo hat an die Mission von Susanne Wenger geglaubt, er wusste, dass durch sie der Orisa in einer ganz veränderten Form eine Überlebenschance hatte. Als er im Sterben lag, schien er von einer großen Depression befallen. Es war, als hätte er auf einmal alle Hoffnung verloren, als sähe er sich nun tatsächlich als den letzten Ajagemo. Er wollte damals Susanne Wenger in den Tod „mitnehmen“, wie dies öfter in der Yoruba Kultur geschieht. Der Tod braucht bei den Yoruba keine rein physische Ursache, er kann durch geistige Kräfte, durch einen „seelischen Beschluss“, herbeigeführt werden.
1956 verließ Susanne Wenger ihren großen vergeistigten Lehrmeisters Ajagemo, von dessen "vulkanischen" Kräften und Initiationen, denen sie sich durch die ungeschützte, emotionale und mystische Hingabe, bis tief ins Innerste ausgesetzt hatte, psychisch und physisch schwer beeinträchtigt Ede. In einem Haus in den Bergen, in welches Ulli Beier sie gebracht hatte, suchte sie, fast wie in der Grazer Zeit, die Einsamkeit der Felsen und rang nach Distanzierung von den aufwühlenden Ereignissen von Ede. Nach einigen Wochen war sie soweit regeneriert, dass sie ein Haus in der Kleinstadt Ilobu beziehen konnte. In Ilobu kannte sie schon alle Priester, sie nahm jedoch nur mehr zweimal im Monat an den Ritualen Ajagemos in Ede teil. Susanne Wenger sagt: "Ajagemo, dieser Vulkan, dieser ganze Vulkan, hatte religiöse Potenzen in mir abgelagert wie in einem Altarobjekt." So war sie auch bereit dem Ruf der Iya Oshun, der Oberpriesterin des Oshun-Kultes in Oshogbo, zu folgen und den Wiederaufbau der Oshun Schreine ernsthaft in Erwägung zu ziehen, womit die Initialzündung für das Projekt "sacred groves", Heilige Haine, von Oshogbo gegeben war. Inzwischen war die Künstlerin mit dem Shonponna-Kultkreis in Berührung gekommen. Shonponna / Obaluaye / Alajere ist einer der wildesten, geheimnisvollsten und vielleicht mächtigsten Orisha-Inkarnationen.
Wolfgang Denk