Yoruba-Mythologie

Auszug aus dem Buch „Ein Leben mit den Göttern“, Text von Susanne Wenger
©1980 Gert Chesi. Perlinger Verlags Ges.m.b.H.

Einige wichtige Begriffe der Yoruba-Mythologie
Yoruba ist traditionell eine Stadtkultur, die nicht durch Kolonisation oder kultu­relle Verproletarisierung beeinflusst, son­dern ihren eigenen inneren Gesetzen fol­gend Städte baute. Man lebt in der Stadt und geht auf die Farm. Von der Farm kommt man anlässlich kultureller Ereig­nisse nach Hause in die Stadt und bringt Naturalien mit.

Religiöses Zentrum aller Yoruba-Kulte ist die Stadt Ilé Ifè. Yoruba braucht immer Kräftebalancen. Allem, was überstark zu werden droht, wird ein anderer starker Wert gegenübergesetzt. So steht auch dem Vulkan metaphysischer Kräfte Ilé Ifè die zweite Metropole der Kulte, Òyó, gegen­über. Der Óòni ist Ilé Ifès Stadtkönig und die heiligste Instanz weltlicher Autorität. Òyó hingegen ist die Stadt des Blitz und Donner repräsentierenden Gottes Sòngó (Shango). Ilé Ifè ist nicht nur mythischer Ursprung aller Yoruba-Götter und -Menschen, son­dern auch der Ort, an dem »die Welt be­gann«. Alle Yoruba-Städte haben einen Stadtkö­nig, doch nur sechzehn dieser Obas tragen eine Perlenkrone. Sie sind die Nachkom­men der sechzehn Söhne Odùduwàs, des mythischen Begründers der Nation, der nun als wichtiger Òrìsà verehrt wird.

Olódùmarè
Der landläufige Irrtum, dass die Yoruba (und andere Vielgötterei betreibende Re­ligionen) nicht an Gott glauben, beruht darauf, dass der Begriff Òrìsà als »die Götter« oder »ein Gott« übersetzt wurde und wird. Es gibt aber keine Übersetzung für Òrìsà in den Sprachen jener Völker, die vorchristliche Kulturerinnerungen in die Räume tiefsten Unterbewusstseins wegge­packt haben. Auch in unseren Erörterun­gen muss leider mit der irreführenden Be­zeichnung »die Götter« vorlieb genommen werden.

Auch das Wort »glauben« wird von den traditionellen Yoruba nicht in Zusammen­hang mit Gott (Olódùmarè) angewandt, da die transzendente Gegenwart Gottes für Mensch, Tier und Pflanze, aber auch für Òrìsà, axiomatisch und unwiderruflich eine Wahrheit ist. Das Wort »Glauben«, Gbàgbó, das seinen Antipoden, das »Nichtglauben«, beinhaltet, steht in der religiösen Polemik der Yoruba nur dem Christentum zu, das eine der zwei impor­tierten Religionen ist. Die Idee, dass je­mand die Existenz Gottes anzweifeln könnte, ist für jeden Yoruba, welcher Re­ligion er auch angehören mag, absurd.

Der missionarische Eifer eilte der Erkun­dung allzu schnell voraus. Man nahm sich nicht die Zeit, um Kultur und Sprache kennen zu lernen, der Fanatismus hatte alle Gewissenszweifel im Keim erstickt. Das Missionarentum ist an sich eine Attacke auf die Würde des Menschen. Olódùmarè ist eine einmalige und mit nichts und niemand vergleichbare trans­zendente Instanz. Die Götter, die Òrìsà, sind ihm alle in einer oder der anderen ih­rer spezifischen Aspekte fast ähnlich, doch nie gleich. Vor der religiösen Verschlam­pung unserer Zeit wurde der Name Olódùmarè kaum je genannt. Er weilt jenseits aller rituellen Bereiche. Der große, in un­messbaren Zeiträumen rund geschliffene Felsenriese im heiligen Strom heißt Òyí­gíyigì zu Ehren Olódùmarès, denn auch er ist zum Bersten geladen mit magisch-my­stischer Urenergie, die beides ist: Materie und Geist. Doch ist es auf jeden Fall prägenetisch die transzendente Libido Òrìsàs, die alle Krea­tur schon vor der physiologischen Besa­mung zeugt.

Olódùmarè hingegen zeugt nicht. Sein axiomatisches Sein bewirkt katalytisch al­les Leben und allen Tod. Alle Zweige der Schöpfung, jede Kreatur, auch Mineral und Wasser sind Olórìsà, denn alles ent­stammt einer hierarchischen Linie eines Òrìsàs und ist somit einer seiner Aspekte.

In diesem Sinne ist jeder Òrìsà-Mythos zu verstehen, indem er - láé-láé - einst, vor langer, langer Zeit auf Erden lebte, wobei die zeitliche Entfernung archetypischen Urgründen prächromosom nuklear ent­spricht. Doch ist jener Platz auf der Erde, auf den ein Gott einst seinen Fuß setzte oder gar durch Leiden ekstatisch transfor­mierte, heilig.

Olórun
Olórun ist ein Epitheton Olódùmarès und in neuer Zeit die Benennung Gottes durch Christen und Mohammedaner. Im Rah­men der Yoruba-Tradition durfte Gott nicht benannt werden. Er ist umgeben von totalem Tabu. Dies war auch im Judentum so. Yehowa, Yahweh usw. sind verhältnismäßig moderne Versuche einer etymo­logischen Rekonstruktion des untragbar intensivdynamischen Namens Gottes. Es gibt eine Überlieferung, der zufolge das Geheimnis des Namens Gottes von der as­ketischen Sekte der Essener gehütet wur­de. Jesus und sein Vetter Johannes der Täufer waren Essener. Heutzutage ist lei­der Olórun als »Hans in der Gasse« jederzeit auf jedermanns Lippen. Er sanktio­niert Flüche ebenso bereitwillig wie Ge­bete und ist in jede Banalität eines geschäf­tigen Alltags einbezogen.

Ori
Eléèdá, der heilige, Gott innewohnende Dynamismus, ist Orí. Orí ist tatsächlich Gottes meta-intellektuelle proto-mysti­sche Substanz, homolog in verschiedener metapsychischer Dimension mit dem heili­gen Geist. Orí repräsentiert nicht nur, ex­trem intensiv, Gottes eigene Spiritualität, Orí ist auch er in uns. Durch Orí ist alles Erschaffene (Edá) meta-intellektuell und meta-genealogisch mit Gott verwandt. Das heißt, alles, was existiert, ist durch Orí eine Inkarnation Eléèdás und hat unverlierba­ren Anteil an Gott. Gemäß dem axiomati­schen Paradox von allem, was dem Psy­choid angehört (C. G. Jung), ist Gottes, Olódùmarès, heiliger Archetypus dem Menschen unbegreiflich. Er ist zu ferne dem sterblichen Denken und doch intimst jedes Geschöpfes höchst individuelles ar­chetypisches Selbst und damit ein unfassba­res Mysterium. Jedes individuelle Orí ist ein Funke transzendenter Energie. Unter Orí versteht der Yoruba den un­sterblichen Wert, auch den des sterblichen Geschöpfes. Seinem eigenen Orí (das man auch als Über-Ich und als das Silberband der Spiritualisten verstehen kann) bringt man Opfergaben und das kleinere Ritual der Kolanuss. Man opfert Orí Kokosnüsse und Fisch, und zwar den Wels (Silurus gla­nis), dessen übermäßig entwickelter Schä­del die meisten seiner Organe beinhaltet und dessen Fühler multipotent sind. Der Fisch ist - interhumanitär - Symbol Gottes und war das Zeichen, unter dem sich Ur­christen erkannten. Das Ritual für Orí ist getragen von dem Ausruf

»Orí imi, Eléèdá àmi« (Mein Kopf, mein Schöpfer). Orí heißt in gewöhnlichem Sprachgebrauch Kopf. Der Kopf, Orí, ist physischer Wohn­sitz des sakralen Prinzips. Das Gehirn, der komplizierteste Organismus, ist in der Tat eine ideale Umschaltzentrale der zahllos in uns vereinten sakralen Energien.

Èsù
In der Yoruba-Übersetzung der Bibel heißt der Teufel Èsù. Dies ist irreführend. Man könnte zwar sagen, dass der Teufel auch Èsù ist. Sympathisierende Europäer kokettieren mit ihrem Flair für Èsù, denn er lässt es doch immer anders kommen, als man denkt. Sie verwechseln den apokalyptischen Kasperl, der eine mystische Großmacht ist, mit der zipfelhäubigen Diwanpuppe, die man auch als Kissen verwenden kann.

Vorgefasste Pläne und vorweggenommene Dispositionen fallen mit Èsù um. Auch die ihm zukommende Sympathie fällt um. Er will sie nicht. Èsù gerät in gefährlichen Zorn, wenn man ihn im Verlauf eines ir­gendeinem Gott zugewendeten Rituals vergisst, er wird jedoch ebenso zornig, wenn man ihm den Vorrang gibt. Wo er - oder einer seiner Priester - auf­taucht, wird er mit einer psychopathischen Sorte von Witz und Gelächter begrüßt. Bewirkt ist dieses auf dem Trockenen ge­strandete Frohlocken von der Tatsache, dass Èsù, der weder Gott noch Òrìsà ist, in jedem Tun und Lassen uns allen - auch Gott - unentbehrlich ist. Er ist das Prinzip, das mit allen physisch-metaphysischen, in­tellektuell-metaintellektuellen Affinitäten und Reaktionen operiert. Es ist die Unab­kömmlichkeit, die uns selbst im intimsten Schicksal auf die Nerven fällt. Denn er, der »kleine Kerl im Kosmos«, ist - wenn er in irgendeiner Weise bezeichenbar ist - das kommunikative Prinzip, der Katalysator in der Meta-Chemisterie des Seins. Èsùs Meta-Instinkt agiert als Wünschel­rute des Orakels Ifá. Er ist des Gottes eifersüchtiger Assistent und Freund. Vom geschnitzten Rahmen des Divinationsbret­tes (Opón) schaut er dem Priester (Babálawo) ins Gesicht und in den Verstand. Auch das aus Elfenbein oder sehr hartem Holz geschnitzte hornförmige Klopfinstrument (Ìroké) in der Hand des Babálawo symbolisiert Èsù, auf einem Pferdchen reitend oder kniend, mit seinem hornartig verlängerten Hinterkopf, der noch in einem Schopf endet. Zum Zopf geflochten, verdeckt dieser Haarbusch die von magischen Potenzen wild pulsieren Fontanelle. Mit der Ìroké klopft der Babálawo am Opón und am Himmel transzendenter Interkommunikation des Orakels Ifá an. Dass Èsù mit prominentem Phallus dargestellt wird, geschieht nicht so sehr seiner physisch-prokreativen Potenz wegen, als vielmehr deshalb, weil der Phallus den metaphysischen und - in - Ifá meta-intellektuellen Stoß in die transnuklearen Dimensionen besorgt. Dieser Stoß ist der erste und eigentliche Durchbruch, der aller physischen - und selbst der (Òrìsà zugehörigen) metaphysischen - Prokreation vorangeht. Präeminent und sakral ist die Keule in Èsùs Hand das Instrument des Totschlags, durch den wir ins Leben hinein sterben. Widersprüchlich - wie man es von ihm gewärtig sein muss - ist Èsù oft kniend dar­gestellt, in der Haltung der gebärenden (Yoruba-)Frau (ikünle abiamon). Im Yoruba-Sprachgebrauch steht diese Hal­tung für jede dringende Bitte. (Mo fi ikün­le abiamon be o - ich bitte dich im Na­men der Gebärenden.)

Èsù ist die Geste Ògbónis zeigend - Faust über Faust - dargestellt. Diese Geste ist in­terhumanitär die der Dreifaltigkeit (die ja keineswegs eine Erfindung des Christen­tums ist). Sie stellt die relative Identität von Himmel und Erde dar. Oder man stellt Èsù mit der Keule des Todes (Ògo) dar, dem Symbol der Tod-Orgasmus-Rezipro­zität. Èsùs Gebete sind negativ. Man betet um das, was er nicht machen soll. »Èsù má sè mi - schädige mich nicht, Èsù!«: dieses Gebet wurde noch bis vor kurzer Zeit mit mehr Menschenopfern bekräftigt, als sie irgendeine andere Yoruba-Gottheit je forderte. Ein Èsù-Oríki besagt, dass er klein ist, wo man ihn groß zu sein erwartet, und dass er groß ist, wo man ihn für winzig hält. Man starrt zu seiner Größe empor, während er unterm Erdnussblatt hockt. Man guckt nach ihm unter der Matte, während er mit dem Schädel das Dach durchstößt. Doch groß oder klein - Èsùs vornehmstes Epi­theton ist Elégbara, »der, der Gewalt hat«.

Ifá
Von allumfassender Wichtigkeit für das zeremonielle und profane Leben der Yo­ruba ist das heilige Orakel Ifá. Die Geisteswelt der Yoruba ist ein gewaltiger metaphysischer Dschungel, vegetativ grausam und von kaum vorstellbarer Vita­lität. Eine wilde Ordnung herrscht, in der alles Leben, dicht ineinander verschlun­gen, sich gegenseitig hält, indem es sich selbst intensivst behauptet. Dieses Dschungel-Geheimnis ist in einen gewalti­gen Welten-Baum-Riesen metaphysisch projiziert, und Ifá, das Orakel, ist nicht Wurzel, Stamm, Ast oder Gezweig, sondern das Aderngeflecht, das ihn allüberall durchzieht. Die »Wasser des Lebens« - wie sie schon in der Apokalypse heißen - haben transzendenten Status in Gott. Òsun ist die Göttin der Wasser des Lebens und gemäß der mythischen Überlieferung ihrer Stadt, Òsogbo, die Gattin Ifás. Òsun selbst besitzt - von Ifá erhalten oder, ihrer eige­nen Behauptung nach, láé-láé und vor Ifá besessen - ihr eigenes Orakelsystem der 16 Kaurimuscheln (Ajé), das sie allen Prie­stern aller Kulte borgt. Im nie unterbro­chenen Mandala-Zyklus des Seins ist Òsun also Wasser (aus dem wir fast ausschließ­lich bestehen). Im ganzen Weltenall ist es - gemäß wissenschaftlicher Aussagen - nur auf unserer Erde in flüssiger Form vorhanden. Dies erklärt auch, dass Òsun in den transzendenten Dimensionen von Ògbóni, dem Kult der Erde, im Himmel den höch­sten Frauentitel besitzt.

Ifá ist das heilige Prinzip des »Sich-vor­wärts-wie-rückwärts-Erinnerns«, des Hell­sehens und Wahrsagens, von dem Aristo­teles, der doch als nüchterner Denker be­kannt ist, sagt, dass es eine »eingeborene Eigenschaft der Seele« sei. Ifá operiert aber mit Hilfe dieser eingeborenen Fähigkeit des transzendenten Menschentums eine meta-algebraische Formelwelt, die sich im poetischen Korpus von Odù Ifá in 4096 symbolgeladenen Gedichten manife­stiert. Diese Gedichte, die eine großartige meta­physische Symbol-Wort-Architektur sind, heißen Odù, nach der Göttin Odù, die tat­sächlich »das Wort« repräsentiert und per­sonifiziert, das »in den Beginnen in Gott weilte« (S. Juan de la Cruz). Odù stellt in­nerhalb des Ifá -Kultlebens - nach Èlá - das heiligste Prinzip dar. Jeder Babálawo führt - bevor er sein Ifá -Ritual durchführt - ein solches für Odù durch, nicht kollek­tiv, sondern allein, höchstens von seinem besten Freund assistiert. Odù ist das weib­liche Prinzip Ifás, ist sowohl die Mutter als auch »Aya«, die Hauptfrau und Geliebte. In Bezug auf das Verhältnis, in dem der Orakelpriester zu Odù steht, zeigt es sich ganz klar, wie Èèwò (Tabu) die tiefen Ur­triebe im menschlichen oder allkreatürli­chen Archetypus sublimiert und zu heilig­stem Prinzip erhöht, im Gegensatz zur Psy­choanalyse, die den »Ödipuskomplex« als Trauma in den zivilisierten Europäern fand. Die Entfremdung von den mysti­schen Urqualitäten durch zwanghaftes Vergessen hat im Zuge der Christianisie­rung die explosive Kraft Èèwòs zum Sym­ptom metaphysischer Mangelkrankheit pervertiert.

Diese 4096 Odù (16 mal 16 mal 16) kann der Orakelpriester so perfekt auswendig, dass sie ihm ohne Mühe - in vollkommen selbstkontrollierter Trance - in den Sinn kommen, sobald eine Zahlenkomposition im Orakel auftaucht. In der rituellen Nachtwache des Jahresfestes für Ifá rezi­tiert ein - meist jüngerer - Babálawo die ersten 16 Odù, wobei die gesamte Kongre­gation der Kultgruppe der Stadt ihm im Chor antwortet und ihn kontrolliert. We­der im Wortlaut noch in der Melodie und vor allem nicht im Rhythmus darf ihm ein Fehler unterlaufen. Beim dritten Fehler würde er ausgeschieden und von einem anderen Priester ersetzt werden. Er muss durch die Initiationsriten im Ilé Awo (Kulthaus) und vor allem im Igbófá gegan­gen sein. Bloßes Auswendigwissen des Odù-Korpus macht noch keinen Babálawo. Es ist vor allem der flüchtig, aber rich­tig angedeutete Rhythmus, den das dem Ifá Priester innewohnende Ifá-Prinzip selbst auslegt. Der Priester ist nur ein Ge­fäß; er ordnet ohne eigene Initiative ar­chetypische Zusammenhänge und legt sie aus - nicht rational, sondern als physio­logische Manifestation. Rhythmus ist - laut Aristoteles - heiliger Zahlensymbo­lismus. In metapsychisch ganz verschiedenem Kontext ist das Yoruba-orakuläre Sy­stem heiliger Zahlensymbolismus.

Die Würden einer Ifá Kultgruppe sind mit Ausnahme der Würde Ojùgbòna eine Lei­ter, die der Priester emporsteigt. Wenn er stirbt, rückt der nächste nach. Die höchste Würde, Àràbà, wird also sicher erst im ho­hen Alter erreicht. Jeder Schritt aufwärts ist mit einer neuen Initiation verbunden. Nur die höchsten fünf Würden eröffnen dem Priester die intimsten Mysterien Ifás, also erst im hohen Alter. Die Initiation in die Mysterien Odùs erfor­dert eine Feuertaufe, die heutzutage nicht mehr oft durchgangen wird. Das Symbol­gut, das diese ersetzt, ist jedoch noch po­tent genug, um unseren Babálawos den Eintritt in die Wort-Kathedralen Odùs, das heißt in die Sinngestaltung Ifás zu gestatten, wenn auch sicherlich nicht im Maßstab vergangener Zeit. Gemäß den Meta-Logismen der Hellsicht, die die Ra­tionalisierung umgeht, wird mit Hilfe der heiligen Poesie festgestellt, welche meta­physische Kraftzone das Individuum über­schritten hat, also welche mystischen Grenzbestimmungen von Èèwò verletzt wurden. Da die Ratio bei solchen Proble­men völlig nutzlos ist, ist Anweisung und Korrektur, ist Umsetzung des schwerer handhabbaren Symbols in die Welt ge­wohnter Begriffe erforderlich. Probleme werden nicht rational erklärt und gelöst - wie in der Psychoanalyse -, sondern mit physisch-metaphysisch potenten Sühneop­fern für den beleidigten und verärgerten Òrìsà aus der Welt geschafft. Das Problem wird also nicht ans Licht geholt, sondern in seinen archetypischen Uranfängen redi­giert. Meist wird Ifá in den Odù mit dem Namen Òrunmiìlà angesprochen. Òrunmiìlà ist ein Epitheton, das dem anthropomorphen Aspekt der Gottheit näher kommt, wäh­rend Ifá - auch ein Epitheton - seinem ab­strakten und esoterischen Charakter bes­ser entspricht. Die Yoruba nennen oft das Prinzip mit dem Namen des bis zur Perfektion verkörperten Individuums - und an­dererseits heißt das Individuum oft wie sein Gott. Òrunmiìlà wird meist mit »Der Himmel weiß wer, oder wie, oder was ret­tet oder gerettet wird« (Òrun mon eni tí yiíóò là) umschrieben.

Ifás Helfer und ständige Begleiter sind Èsù und Òsonyìn. Òsonyìn ist die magisch-my­stisch-mächtige Erlebenskraft der Pflanze, ist ihre transformative Potenz in der Medi­zin. Wie in den heiligen Hainen die Bäume meta-intellektuelle Priester und Zeremo­nienmeister sind, so ist nicht so sehr der Babálawo (der Doktor) Rezipient der ora­kulären Rezepte, sondern Òsonyìn, der in der Pflanze und durch die Pflanze mit Ifá kooperiert. Der Babálawo ist immer auch selbst Doktor, doch steht es der konsultie­renden Person frei, der betreffenden Gott­heit die nicht direkt Ifá zustehenden Op­fergaben im eigenen Hausschrein zu er­statten. Die kryptästhetische Diagnose stellt Ifá.

C. G. Jung schreibt: »Um ein Individuum zu verstehen, muss man wissenschaftliches [rationales] Wissen vorerst beiseite legen, muss stagnante Theorien ausschalten, um immer neu und unvoreingenommen [also aus den archetypischen Wurzeln] zum Ver­ständnis zu gelangen.« Jung sagt auch: »Absolute Wahrheit [wir nennen dies lie­ber Realität] hat prädominant den Charak­ter der Irregularität.« Jung spricht auch von Synchronismen, die schicksalbestimmend sind. Da sind wir nun wieder bei Ifá angelangt. Sowohl der Wissenschaft al auch dem Orakel liegen polydimensional Welterfahrungen zugrunde. Òsonyìn ist einbeinig wie die Pflanze und als eiserner, geschmiedeter Stab repräsentiert. Der Babálawo besitzt als Òsonyìn Altar-Paraphernalie so einen Opa Orere eléye kon (Stab Òsonyìns, trägt einen Vogel). Der Besitzer eines Opa Orere ist sehr vorsichtig, damit dieser nie umfällt oder auf dem Boden liege, da dies das Ende seines Pflanzenseins symbolisieren würde: die Pflanze, die auf dem Boden liegt, ist tot.

Der heiligste und geheimnisvollste Aspekt Ifás ist Èlà. Èlà ist der Jüngling, der Kind-Mann Ifá, das Ideal Odùs, der Mutter-Geliebten. Èlà wird kaum je erwähnt und ihm wird kein Ritualprogramm zuteil. Es mag sich aus den Odù-Konstellationen ergeben, dass Èlà Urheber einer meta- intellektuellen Desorientierung ist: Èlà in uns, Èlà im Himmel, Èlà im Nukleus eine Tabu-Verletzung. Der Babálawo rezitiert zwar das entsprechende Odù, doch es gibt keine individuelle Auslegung, deutet die Synchronismen des Menschenschick­sals mit denen des Gottes mit keinem Wort an. Nach der entsprechenden Rezitation folgt nur mehr eine Aufzählung der Opferga­ben, die der Klient zu erstellen hat. Diese Opfergaben bestehen aus Tieren oder Le­bensmitteln - und natürlich Kolanüssen in der zahlensymbolisch dem Gott verwand­ten Quantität - wie in jedem Falle einer Divination. Doch über Èlà zu sprechen, auf seine Ei­genschaften hinzuweisen oder - was so ty­pisch für die metaphysische Aggression der Yoruba wäre - den Gott mit apokalypti­schem, grausigem Witz rituell in Schwung zu bringen: nichts dieser Art ereignet sich in der transzendenten Gegenwart Èlàs. Èlà ist das Schicksal, verwundbar und unend­lich erschütternd, ist die Saite, die in den Bogen des Weltgeschehens gespannt ist. Der Pfeil ist, wie er im rituellen Bogen­schießen des Zen sein Flug und das Ziel - alles - ist, am Equilibre Dynamique des Seins auch wieder Èlà.

Die paraphernalischen Werkzeuge der Divination sind: das Divinationsbrett (Opón), aus dessen geschnitztem Rahmen Èsù in die inneren Zusammenhänge des gegebenen Problems starrt; das auf dieses Divinationsbrett gestreute Holzpulver (Ìròsùn), der Rückstand eines von Termi­ten gefressenen Rotholzbaumes und Ìroké, das Klopfholz, das, aus Elfenbein oder härtestem Holz geschnitzt, Èsù darstellt. Die eigentliche Divination wird entweder mit Hilfe von 16 ganzen Nüssen der Òpe­fá-Palme oder mit der Òpèlè durchgeführt. Die Òpèlè besteht aus 8 halben Ìkin-Palm­nüssen, die auf einer Kette aufgereiht sind. Der Babálawo hält die Kette in ihrer Mitte und wirft sie vor sich nieder, wobei sich aus dem Verhältnis zwischen konkaven und konvexen Hälften die Zahlenkombinatio­nen ergeben, die das betreffende Odù indi­zieren. Die andere, ältere und intimere Methode der 16 ganzen Nüsse lässt den Babálawo die Nüsse von einer Hand in die andere werfen, wobei die in der Hand üb­rig gebliebenen und die in die andere Hand übersiedelten Nüsse die Zahlensymbole Odùs indizieren. Jede mögliche Zahlen­kombination entspricht einem bestimmten Odù. An jedes Odù schließt sich ein »klei­neres« Odù an, und einem jeden solchen in weiterer Folge wieder eines. Dies ergibt 16 mal 16 (= 256) mal 16 = 4096.

Odù
Odù, die ewig ihre Jungfräulichkeit be­wahrende Mutter des Orakels (Ifá), die vom Orakelpriester (Babálawo) privat mit gefühlsbetontem Ritual betreut wird, ist das Wort. 16 mal 16 mal 16, das macht 4906, voneinander abgeleitete propheti­sche, mit satyrischem Göttergelächter ge­ladene Gedichte, durch die sich Ifá ver­kündigt, heißen nach ihr Odù, da diese als der Göttin Wort-Epiphanie verstanden werden. Vom Wort sagt auch S. Juan de la Cruz, der christliche Mystiker, in seinen an Gott ge­richteten Stanza (deren sublime Erotik der der großen heidnisch-griechischen Lyrike­rin Sappho nicht nachstehen): »Ferne, wo Beginne sind, weilt das Wort und Gott.« (Gedichte an die Dreiheiligkeit.)

Egbé
Meistens werden die Rituale für Orí und Egbé zusammen durchgeführt. Auch Egbé ist Olódùmarè in uns. Egbé heißt Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft und reprä­sentiert als religiöse Instanz Gottes emo­tionelles Spektrum als die Multiplizität und Komplexität jeder individuellen Gefühls­welt. Daher ist die symbolische Personifika­tion - Epiphanie - von Egbé nicht eine Taube, sondern ein Taubenschwarm. Tau­benweibchen legen zwei Eier zugleich. Die Jungen kriechen zugleich aus und wachsen zusammen auf. Auch später bleiben sie beieinander, paaren sich und bringen neue Generationen von nur einander heiratenden Zwillingen hervor. Stirbt eines, bleibt das zweite bis zum Tod allein. Blutschande kommt unter Yorubas nie vor. Alte Leute bezeugen jedoch, dass sie sich an Zeiten erinnern, in denen Zwillinge, verirrte Himmelsbewohner, ausschließlich einander heirateten oder - im Falle von Homogenität oder Tod - auf das nächste heterogene Kind ihrer Eltern warteten.

Ibéjì
Ibéjì sind Zwillinge. Sie sind auch jetzt noch als »Ará Òrun«, als Himmelsbewohner angesehen. Sie (oder ihre Eltern) müssen in regelmäßigen Abständen der sakralen Instanz Ibéjì, der alle Zwillinge angehören, Opfer bringen. Stirbt eines, so muss das andere eine das tote Kind repräsentierende kleine Figur mit sich herumtragen oder am Hausaltar verehren. Eine Kopie aller seiner neuen Kleider wird der Puppe mitspendiert. Die Zwillinge heißen immer Táyéwò und Kéèhìndé (koste die Welt, komm hinterher). Beide sind Edun genannt, wie die heiligen Äffchen im heiligen Hain. Auch Omo Méjì (zwei Kinder) kann jedes von ihnen genannt werden.

Abikú
Abikú sind eine andere Art von Geister­kindern. Abikú heißt »geboren, um zu sterben«. Sie sterben meist jung, um zu ih­ren Spielkameraden (ihrer Egbé) im Himmel zurückzukehren. Doch tun sie das nur, um sich bald von denselben Eltern wieder gebären zu lassen. Gequält und ver­bittert durch diese kindliche Grausamkeit, pflegen Eltern ein Zeichen in die kleine Leiche zu schneiden. Mit dieser Narbe wieder geboren, bleiben sie dann meist am Leben. Ich kenne einige Leute, die mit solchen Narben geboren wurden oder gar Ver­stümmelungen mit ins Leben brachten. Adíja, die als Kleinkind zehnmal gestor­ben war und von der vor Gram verwirrten Mutter zur Erde geschleudert und ver­stümmelt wurde, kam bei ihrer elften Ge­burt ohne Kinn zur Welt, weil dieses zer­schmettert worden war.

Susanne Wenger über Orishas
Die Yoruba wissen, dass das Göttliche sich auf verschiedenste Weise manifestieren kann, dass Bäume, Tiere, Flüsse, Felsen und Menschen einem Orisa als Medium dienen können. Sie wissen, dass die Orisa mit ihren verschiedenartigen Temperamenten alle Teilaspekte einer einzigen göttlichen Kraft sind, und dass die Menschen nur dann ein sinnvolles Leben führen können, wenn sie im Einklang mit dem ihrem eigenen Temperament gemäßen Orisa leben. Kein heiliges Buch reguliert die Beziehung zwischen Gott und Mensch - diese muss täglich neu erarbeitet werden. Durch das Kolanuss-Orakel, das jeder Mensch jeden Tag an seinem eigenen Altar ausführt, tastet er sich an den Gott heran, setzt sich mit ihm auseinander und räumt kleine Unstimmigkeiten durch Opfergaben aus dem Weg. Wie in einer Ehe, darf keiner der beiden Partner die Liebe des anderen als Selbstverständlichkeit voraussetzen. Die ununterbrochene Beschäftigung mit dem Orisa, das „fast pausenlose Ritual“ erfordern viel Kraft und Integrität, gleichzeitig bereichern sie das Leben des Menschen in dem Maße, in dem er an dem Verhältnis zu seinem Gott arbeitet.

Äußerst schwierig und gleichzeitig sehr ekstatisch wird das Leben für den, der auserkoren ist, den Gott „zu tragen“ und zu verkörpern. Die Initiation eines Priesters stellt eine Belastungsprobe für den menschlichen Geist dar, an der ein Unvorbereiteter zerbrechen kann. Einer solchen Belastungsprobe wurde Susanne Wenger ausgesetzt, als sie den Obatala Priester Ajagemo traf. Schließlich fand die Begegnung zwischen Susanne Wenger und dem Ajagemo zu einer Zeit statt, da die Yoruba Religion von allen Seiten bedrängt und bedroht wurde. Der Ajagemo ahnte wohl, dass ihm kein Priester gleichen Formats nachfolgen würde. Eben dieses Wissen um den drohenden Untergang einer großartigen Kultur gab diesem Menschen tragische Größe, Weisheit und fast übermenschliche Intuition. Beim alljährlichen Obatala-Fest musste im Königspalast ein altes „Passionsspiel“ aufgeführt werden, in dem ein Krieg durch Tanz dargestellt wird, der mit der Gefangennahme des Ajagemo endet. Er wird dann vor den König geschleppt, der ihn - anders als Pontius Pilatus in jener anderen Passion - nicht zum Tode verurteilt, sondern freikauft. Ich habe dieses Fest jahrelang immer wieder miterlebt. Bei jedem Fest wurde der Ajagemo, der seine „Rolle“ ja nicht gespielt, sondern gelebt hat, tragischer und vergeistigter. Uralte Mythen wurden hier lebendig, die geistige Energie des Yoruba wurde durch dieses Ritual wie ein Akkumulator wieder aufgeladen, durch diesen unglaublichen Menschen, der in diesen Augenblicken wirklich zum Gott wurde.

Bei diesen Festen wird der Priester normalerweise durch die kollektive Konzentration und Energie der Gemeinde getragen. Der Ajagemo musste erleben, dass diese Gemeinde jedes Jahr kleiner wurde, dass die großartigen alten Leute langsam wegstarben, dass eine junge Generation heranwuchs, die mit ihrer „Schulweisheit“ immer oberflächlicher und zynischer wurde. Jedes Jahr musste der Ajagemo also mehr eigene Kraft finden und investieren, um das Fest überhaupt noch durchführen zu können. In dieser schwierigen Situation bedeutete das Erscheinen von Susanne Wenger eine wesentliche Stärkung seiner Position: nicht nur, weil sie den zerfallenden Obatala Schrein am Markt wieder aufbaute, oder weil der König ihr einen gewissen Respekt zollen musste, sondern vor allem, weil sie ihre eigene geistige Energie vollkommen in diese Rituale einfließen ließ.

Ajagemo schien von Anfang an entschlossen, sie in die Mysterien des Kultes einzuweihen und sie zu einer wahren Olorisa zu machen. Ob er wusste, was er da von ihr verlangte, ist nicht klar. Konnte er ahnen, um wieviel schwerer eine solche Initiation für einen Außenseiter war? War er sich der Tatsache bewusst, dass dieser geistige Prozess für Susanne Wenger durchaus gefährlich werden konnte? Die Künstlerin kann von den Erfahrungen dieser Jahre bis heute nur in Andeutungen reden.

Kern der Yoruba Religion ist nicht die alltägliche Moral; die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen zu ordnen ist Sache der Vorfahren, nicht der Götter. Initiation, Ritual und Trance der Yoruba Religion dienen dazu, die Grenzen zwischen der diesseitigen und jenseitigen Welt blitzartig zu durchbrechen. „Durch die Trance werden die Grenzen der menschlichen Existenz für einen kurzen Moment überschritten. Der Mensch verschafft sich durch diese kühne Grenzüberschreitung die Gewissheit, dass er Teil des schöpferischen Prozesses ist, das er ein Teil von Gott ist. Und darauf beruht sein Stolz, dass er imstande ist, mehr als ein Mensch zu sein, und darin sieht er seine Größe, dass er den Mut hat, die natürlichen Grenzen seiner Natur zu durchbrechen. Die Trance ist wie eine Invasion von menschlichen Wesen in den Bereich, der normalerweise den Göttern gehört. Von diesen kurzen Streifzügen kehrten sie mit göttlicher Beute zurück...“

In den folgenden Jahren konnte die Künstlerin ihr geistiges Gleichgewicht nur dadurch erhalten, dass sie das religiöse Erlebnis, das „metaphysische Abenteuer“, immer sofort in schöpferische Tätigkeit umsetzte. Die Ölbilder, die sie in diesen Jahren malte, waren von einer fast unerträglichen Intensität.

Sie stellen energiegeladene Rituale dar und sind mit einer beinahe wilden Spachteltechnik in düster leuchtenden Farben ausgeführt. In diesen Bildern lassen sich die seelischen Spannungen jener Jahre deutlich ablesen. Die Initiation, die sich über Jahre erstreckt, wurde zwar nicht - wie das früher einmal der Fall war - in der totalen Abgeschiedenheit eines Initiationshauses vollzogen, doch musste Susanne Wenger jahrelang in einer geistigen und seelischen Isolation leben. Europäische Besucher empfing sie in dieser Zeit praktisch nicht mehr. Der Ajagemo hat an die Mission von Susanne Wenger geglaubt, er wusste, dass durch sie der Orisa in einer ganz veränderten Form eine Überlebenschance hatte. Als er im Sterben lag, schien er von einer großen Depression befallen. Es war, als hätte er auf einmal alle Hoffnung verloren, als sähe er sich nun tatsächlich als den letzten Ajagemo. Er wollte damals Susanne Wenger in den Tod „mitnehmen“, wie dies öfters in der Yoruba Kultur geschieht. Der Tod braucht bei den Yoruba keine rein physische Ursache: er kann durch geistige Kräfte, durch einen „seelischen Beschluss“, herbeigeführt werden.

Von der ganzen kolonialen Situation in Nigeria hatten wir keine Ahnung, uns wurde nur ein Zettel mit dem überreicht, was wir mitnehmen sollten. Ulli hatte das alles nicht und meinte: „Irgendwie werden wir uns da schon durchschwindeln“. Der Vizekanzler der Universität gab uns ein Guesthouse in seinem Compound, weil er gehört hatte, dass ich Künstlerin sei, und meinte, ich würde „solitude“ brauchen. Die koloniale Europäerclique war untereinander hilfsbereit, und davon profitierte selbst ich. Die Engländer haben sich in den Kolonien vollkommen abgesondert, dadurch schadeten sie anscheinend kulturell weniger als die Franzosen. Die Pogrome gegen die traditionelle Religion, die 1917 durchgeführt wurden, zeigen allerdings von der ungeheuren psychologischen Taktik und Brutalität, mit der das Empire zusammengehalten wurde. Als dann die Unabhängigkeit kam, konnte man feststellen, dass die Kolonialherren den Einheimischen aller Kolonien das nötige Selbstvertrauen, d. h. die Fähigkeit zur Selbstverwaltung, sorgfältig abgewöhnt hatten. Aber in Missionsschulen schlecht oder nicht ausgebildet, waren die Leute, die die ersten Regierungen bildeten, noch bessere Politiker und bessere Menschen als alle späteren.

Ulli Beier war von Phonetik auf das Extra Mural Department (jetzt Adult Education) umgestiegen und fuhr, begeisterter Lehrer ohne Dünkel, der er war, auf einem Lastwagen auf denkbar schlechten Straßen in viele Yoruba-Städte und half in allen möglichen Bildungsnotwendigkeiten nach. Wir beide erhofften uns Nigerias politische Unabhängigkeit. Als sie dann 1960 kam, saßen in vielen Ämtern Ullis frühere Schüler, die ihrerseits ihm, als Gegenleistung, während der zweiten Hälfte der Unterrichtsstunde Fragen über traditionelles Leben und Denken beantwortet hatten. Heutzutage könnten sie es nicht mehr. Waren sie doch erst die erste Generation, die von der Tradition weggelockt worden war. Und er gab ihnen durch sein begeistertes Interesse Stolz und Einsicht in die ethischen Schönheiten ihrer Welt zurück. Diese Männer aus Ullis vielen, vielen Klassen waren dann zu Distriktoffizieren und anderen Obrigkeiten geworden, die selbst für mein vom Fortschritt kaum belecktes Leben gelegentlich nützlich waren und mir sehr geholfen haben. Wir wollten dann von Ibadan und dem künstlichen Uni-Compound weg und sind in Ede gelandet, wo ich nach vier Tagen bereits Teil der Kultur war.

Diese alten Leute, die mich vor allem faszinierten, haben schon vorausgewußt, was ich mal machen werde. Die Liebe, die zwischen diesen meinen ersten rituellen Müttern und Vätern und mir sofort da war, ist ein Phänomen von tiefster Bedeutung. Sie „erinnerten voraus“, was ich noch gar nicht wusste und in vier Jahren Ede, vier Jahren Ilobu und dann Oshogbo schaffen würde.