Katalog 1985

Der Katalog erschien 1985 anlässlich der Ausstellung „Susanne Wenger“ im Künstlerhaus Wien / Nö-Art Galerie
Kurator Wolfgang Denk

Die Frage, wie ich, der erst drei Jahre alt war, als Susanne Wenger nach Afrika ging, dazu komme, ihre erste Ausstellung nach mehr als 30 Jahren in Österreich zu organisie­ren und diesen Katalog zu erarbeiten, anstatt einfach meiner Tätigkeit als Künstler nachzu­gehen, kann ich nicht eindeutig beantworten. Durch viele „Zufälle“ gesteuert, begann bei mir das Interesse für Susanne Wenger zu er­wachen. Ein Aspekt war sicher, dass ich bei ihr ein Idealbild einer Künstlerlaufbahn verwirk­licht sah, indem sie Leben und Einsichten, Er­lebnisse und Schicksal in ständiger Vertiefung in ihr Werk einfließen lässt und so, wie an ei­nem Turm bauend, in immer größere Höhen der Weisheit und Aussagekraft vorstößt. Sie gibt damit ein Beispiel, das dem Schreckge­spenst einer Kunst als modisch kurzfristiger Handelsware kaum ferner stehen könnte.

Freunde, die Anfang 1984 in Lagos lebten, machten mich auf ein Buch über Susanne Wenger aufmerksam. Ein vorerst fremd anmutender, von monu­mentaler, wilder, naturhaft expressiver Archi­tektur, höhlenartigen Innenräumen und of­fensichtlich riesenhaften Skulpturen überreich belebter Kosmos erregte sofort meine Auf­merksamkeit. Seltsam und faszinierend die magische Anziehungskraft, die von diesen Kunstwerken ausging. In dem größtenteils von Susanne Wenger selbst verfassten Text des Buches, der mich trotz seiner Kompliziertheit sehr berührte, fie­len mir mehrere Parallelitäten zu meiner Welt­sicht und Arbeitsweise auf. Meine erste Begegnung mit der Yoruba-Philo­sophie fand hier statt. Eine scheinbar unent­wirrbare Fülle von Mythen und Weisheiten strömte aus diesen verschlungenen Wortkas­kaden. Weltkultur als Kultur der Menschheit und nicht nur des Abendlandes aufzufassen, kenn­zeichnet auch das Bestreben Susanne Wen­gers. Sie hat unsere europäische Selbstzufriedenheit und wohl auch Selbstüberschätzung abge­streift. Wir dagegen haben im Bemühen, unsere Form von Zivilisation allen Völkern aufzu­drängen, den Blick dafür verloren, was wir selbst lernen könnten.

Schriftsteller, Musiker und Künstler erkann­ten immer wieder, und besonders seit der Mit­te des 19. Jahrhunderts, welche wichtigen Le­bensäußerungen aus anderen Kontinenten kommen, die zur Evolution unseres Kultur- ­und Geisteslebens notwendig waren, aber sie gingen selten wirklich zu den Quellen. Erfahrungen, die ich mit Steinkreisen, Dol­men und Menhiren machte, führten mich auf die Spur außereuropäischer Kulturen und zu ersten geistigen Gemeinsamkeiten mit Susan­ne Wenger. Das Sanktuarium von Stonehen­ge war auch einer ihrer „Lehrmeister“. Mir schien Afrika aber nicht ins Stammbuch geschrieben zu sein, und doch führte mein Weg nach Oshogbo/Oshun State/Nigeria. Jene Freunde luden mich zu sich ein und im Unterrichtsministerium bekundete man starkes Interesse an Kontakten mit Susanne Wenger. Man half mir, die erste Reise zu finanzieren. Im Goethe-Institut Lagos sollte eine der selte­nen Wenger-Ausstellungen eröffnet werden, es griff eines ins andere über. Zufälle?

18. Mai 1984: Ich fliege nach Lagos, wo ich mit Susanne Wenger zusammentreffe, was in weiterer und abwechslungsreicher Folge bis zu dieser Dokumentation führte, an der auch meine Frau Martha, die ein besonderes Nah­verhältnis zur Künstlerin aufbaute, intensiv mitarbeitete.

Eine Einführung in die Komplexität und Viel­schichtigkeit der Yoruba-Mythologie gestat­tet weder der Umfang noch die Zielrichtung dieses Kataloges, daher einige Buchhinweise: In „Susanne Wenger - Ein Leben mit den Göttern“ vom bekannten Photographen Gert Chesi, es ist das oben erwähnte Buch, gibt Susanne Wenger umfassende Auskunft über die My­then und Götterwelt der Yoruba. Der berühmte Afrikaexperte ist jener Mann, mit dem Susanne Wenger 1950 nach Nigeria kam. Sie betont seine Autorität, über ihr damaliges Erleben zu berichten, dessen Beobachter er mit viel Einblick und Verständnis er in erster Instanz war. Ich versuchte, dem einmaligen Werk und Su­sanne Wengers Leben als gelebtem Gesamtkunstwerk, vor allem auf einer subjektiven Ebene nahe zu kommen. Susanne Wenger in einem Brief: „Mir geht es um die Kontinuität der Ausstrahlung wäh­rend des Arbeitsprozesses durch das Medium der vollendeten Handlung. Nur so vermittle ich ein spröd lesbares Kryptogramm, das ich mitbringe, aus den Tiefen und Weiten des Geistes. Ausstellen tu ich an sich gar nicht mich und was ich mache. So wie im Ifa Orakel ist das Wesentliche das, was mit dem Wort oder einem anderen Vehikel reist - ihm sozu­sagen auf den Flügelspitzen sitzt…“ Die wirklich ergreifende Botschaft, die poeti­sche und spirituelle Kraft des Phänomens Su­sanne Wenger können und sollen nur die nachfolgenden Bilder selbst vermitteln. Sie sind der Wegweiser in der abenteuerlichen Reise zum Verständnis dieser Kunst. Dem heiligen Fluss Oshun und den Stimmen des Regenwaldes zu folgen und sich zu vernei­gen vor den riesigen Statuen am Töpferfeld der Iya Moopo - ist ein Ziel. Es gilt, Susan­ne Wengers bisher etwas weniger beachtete Ölmalerei, die in ihrer außergewöhnlichen Subtilität besonders erregend und eindrucks­voll ist, die verschlungene, sensible Formen­sprache der großformatigen Wachsbatiken sowie die Skulpturen und Architekturen im Hain von Oshogbo zu entdecken. Sie, die den Versuch wagte „das Wunderbare so zu prei­sen wie es ist", bescheiden hinter ihren Wer­ken zurückstehend, die Priesterin des Obatala und Shonponna, die Grazerin in Afrika, die großartige Erzählerin und Interpretin von Yoruba-Mythen, die moderne Künstlerin, die die Bäume liebt, versteht und schützt, die­se Frau, die wie ihre Kunst, eine so elementare Lebensenergie ausstrahlt, sollten wir kennen­lernen.

L E B E N S L A U F von Susanne Wenger
Die Lebensbeschreibung eines anderen Künstlers zu verfassen, wirft wie bei einem selbst, einige Probleme auf, eine Biographie Susanne Wengers tut dies in extremer Weise. Welche Daten sind wichtig im Leben eines Künstlers? Ausstellungen? Ausbildung? Rei­sen? Menschen? Bücher? Bei Susanne Wenger ist gerade 1985 eines au­genfällig: 35 Jahre Europa - eine äußerlich kaum unge­wöhnliche Laufbahn für eine Künstlerin mit starken individuellen Erlebnissen, die in einer rückschauenden Interpretation bereits auf ih­re zweite Lebenshälfte - 35 Jahre Afrika - hin­weisen. Im kriegserschütterten Wien, als Freunde ver­folgt wurden und sie als „entarteter" Künstler - „nur mein Schweizer Pass hat mich vor dem Arbeitslager gerettet“ - in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte, dachte sie noch nicht, je­mals nach Afrika zu gehen. Starke, archaisch farbige Träume überfielen sie in den Bomben­nächten. Halbwach notierte Susanne Wenger diese Träume und hielt sie zwischen den Alarmen in Buntstiftzeichnungen fest. Eini­ge Monate danach las sie ein Buch von Ras­mussen. Dieser hatte bei den Eskimos ein ih­ren Visionen eines Schöpfungsmythos bis ins Detail gleichendes Trance-Lied aufgezeich­net. Auch Tibet interessierte sie damals. Ein starkes Flussritual des Oshun-Kultes (Oshun ist der heiliger Fluss in Oshogbo), wird sie sich viel später des präkognitiven Gesichtes wieder be­wusst, das mit dem schamanistisch-mysti­schen Geschehen im Eskimolied praktisch ident war. Susanne Wenger wurde am 4. Juli 1915 in Graz geboren. Sie besuchte dort die Volks­schule (gerne), kämpfte im Haus ihrer Eltern in einem winzigen Raum neben der Küche mit religiösen Problemen und schloss ihre ersten Freundschaften mit Bäumen. „Für mich, wenn man sich eine Hierarchie des Lebens vorstellt, die dem, was in westlichen Kulturen als Gott bezeichnet wird, gipfelt, ist die näch­ste Stufe, also sagen wir, der höchste Adel in der Entourage Gottes, der Baum.“ Sie fand Aufnahme in die Grazer Kunstgewer­beschule und begann mit Keramik. Zu ihrem sporadischen Besuch in der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien be­merkt sie: „Oft ein Monat oder mehr war ich allein in den Bergen, nur mit einem kleinen, umgeschnallten Skizzenblock.“ Sich in die Einsamkeit der Natur zurückzu­ziehen, war für sie eine unverzichtbare Ener­giequelle von Kindheit an. 1933 -1935 studier­te sie an der Wiener Kunstakademie in der Meisterklasse für Freskomalerei bei Prof. An­dri.

1946, als der Wiener Art-Club gegründet wur­de, war sie dabei. Maria Bilger, eine Freundin von Jugend an, Wotruba, Bertoni, Güters­loh, Haustier, Fuchs - sind nur einige Namen später bekannter österreichischer Künstler­persönlichkeiten aus dem Art-Club. Mit Johann Fruhmann teilte sie ein Atelier, bei Prof. Boeckl setzte sie ihr Studium fort. In der nach dem Weltkrieg in Aufbruchstimmung befindlichen Künstlerszene hatte sie viele Freunde und doch löste sie sich allmählich von Wien. Eine kurze Episode war die Mitarbeit an der Zeitschrift Plan. Der erste Preis eines Plakatwettbewerbs er­laubte ihr einen dreimonatigen Italienaufent­halt (Sizilien und Rom). Ein Freund ihres Vaters lud sie dann in die Schweiz ein. Sie sollte sich einen Monat lang richtig „anessen“. Nur langsam hatte sie sich von den Folgen ei­nes schrecklichen Unfalls in Wien erholt: Der Absturz in einen Liftschacht wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden.

Zürich: der Maler und Kunsthändler Hanseg­ger, Gründer der Gruppe Abstrakt-Konkret (mit Hans Arp, Sophie Taeuber, Piet Mon­drian, Paul Klee), nimmt sie in seine Galerie „Des Eaux Vives" auf. Der Erlös einiger weniger verkaufter Arbeiten erlaubte ihr, einem Rat Hanseggers gemäß, 1949 nach Paris umzuziehen. Sie wollte der in­neren Gebundenheit an Wien und damit der Gefahr des „Selbstgenügens“ entgehen. „In Paris habe ich einfach gelebt und gemalt - keine Sorgen gehabt - und war von der Stadt eigentlich etwas enttäuscht. Mein Haupterleb­nis war, dass ich aufgenommen wurde von den Clochards. Das waren mir die wichtigsten Menschen in Paris. Die sind ungeheuer stark, zumindest in der Ablehnung.“

Paris, dort bahnen sich für die damals 35-jähri­ge Susanne Wenger folgenschwere Entschei­dungen an. Sie traf Ulli Beier, heiratete ihn, ließ Europa hinter sich und kam gegen Ende des Jahres 1950 nach Nigeria. Sie fand einen Platz inmit­ten Afrikas, der offensichtlich schicksalshaft auf sie gewartet hatte, ein Platz, der ihr Selbst­findung und Selbstverwirklichung erlaubte. In Oshogbo, einer Kleinstadt, ca. 250 km nordöstlich von Lagos, im Zentrum der Yo­ruba-Region, entstand in einem uralten Re­genwald entlang des Oshun-Flusses das Hauptwerk, ein Gesamtkunstwerk monu­mentalen Ausmaßes: Eine Symbiose aus Architektur, Plastik, Malerei, aus Spiritualität, Natur, Kunst. Durch dieses Werk ist Susanne Wenger international bekannt geworden. Aber noch war es nicht so weit. 1951 bezog sie ein kleines Gästehaus auf dem Universitätsge­lände in Ibadan, wo die erste Universität Westafrikas in ehemaligen Militärbaracken untergebracht war.

Es folgten Reisen weiter ins Landesinnere. In Jebba am Niger, nördlich des Yoruba-Terri­toriums, wo die Regenwaldzone schon längst einer steppenartigen Landschaft gewichen ist, warf eine schwere Erkrankung sie für 14 Mo­nate nieder. „Ich war natürlich schon vorher krank, schon von Wien her, durch den Unfall im Aufzug ist irgendwie eine Kinderkrankheit in der Lunge aufgebrochen. Ein Arzt hatte da­mals bereits festgestellt, dass ich Tuberkulose habe. Aber ich hatte das sehr vernachlässigt. Freunde rieten ihr, nach London zu gehen um sich behandeln zu lassen, sie aber vertraute sich zwei afrikanischen Ärzten an. Im Spitalsbett liegend malte sie die Serie der „Holztafelbilder“.

Nach ihrer Heilung und einer Europareise 1952 zog sie nach Ede, einer sogenannten „Buschstadt“ in der Nähe von Oshogbo. Sie konnte sich von den Psychosen der „Pneumotoraxzeit" nur mühsam befreien, die ihr aber das Tor zu einem neuen Raum ihres Bewusstseins öffneten. Angezogen durch den tiefen Ton der Igbin-Trommeln im Morgengrauen „Das Obatalaritual wird ja hauptsächlich im Morgengrauen gemacht, da steigt der Gott aus der metaphysischen Dimension in die irdische herab“ kam Susanne Wenger zu der Begegnung mit Ajagemo, dem mächtigen Oberpriester des Oba­tala.

Durch die Teilnahme an den Ritualen, der Yoruba-Sprache noch nicht mächtig, drang sie, gleichsam durch die Haut begreifend, plötzlich, schockartig, tief in die Geheimnis­se der Orisha-Religion vor und wurde letzt­lich eingeweiht. Orisha ist des unbeschreibli­chen Gottes Olodumare, der mehr dem Tao als einem persönlichen Gottesbild gleich­kommt, Mittler zu den Menschen. Ein kaum übersetzbarer Begriff: Götter, Halbgötter, Heilige? „Jeder Orisha ist eine Individuation einer ganz spezifischen, sowohl physischen, wie transzendenten Energie“. Der Yoruba­mythologie zufolge haben sie alle einmal auf Erden gelebt. Susanne Wenger hatte sich inzwischen im sozialen und spi­rituellen Leben der Yoruba integriert. Ein in­teressanter Aspekt, dessen Untersuchung hier zu weit führen würde: Der indirekte Einfluss der Yoruba auf unsere Kultur. Ein innerer Gleichklang mit bis dahin Unbekanntem aus Afrika inspiriert seit langem europäische Künstler, auch in neuester Zeit: Michael Bu­thes „Benin-Zyklus"; Pencks Malerei, die oft frappant an rituelle Yoruba-Malerei erin­nert. Calypso; Yoruba-Rhythmen im manch­mal so intellektuell erscheinenden modernen Jazz). Yoruba-Orisha-Religion, sie ist die Mutter von afro-amerikanischen Religionen wie Voodoo, Candomble und Macumba mit ihren rasch wachsenden Anhängerzahlen in Brasi­lien; Samba, Reggae…

1954 stellte Susanne Wenger in Paris (Galerie Creuze) wild dramatische Ölbilder aus. Die ersten Interpretationen der Rituale, Opfer und Mythen, die sie aus Begeisterung, aber auch um die ungeheure psychische Belastung auszubalancieren, gemalt hatte. Ausstellungen in London, Frankfurt, Zürich und Breda folgten. Nach einer Prophezeiung des Priesters Ajage­mo sollte sie aber die heiligen Lehmschreine wiederaufbauen. Vorerst in Ede, erlernte sie die Adiré-Batik, eine Stärke-Batiktechnik der Yoruba. Indigo, ein Pflanzenfarbstoff, wird zum Einfärben bei dieser traditionellen Technik verwendet. Die­se großformatigen Batiken wurden ebenfalls in Paris und London gezeigt. Der Gebrauch dieser Batik-Methode, eine oft langwierige Arbeit, die aber im Gegensatz zur Malerei kommunikativ im Kreise der Menschen, mit denen sie jetzt lebte, ausgeführt werden konnte, ermöglichte es ihr, der Abgeschlossenheit der Ateliersituation zu entkommen.

Das Grundelement ihrer Adiré-Batik war wieder die Mythologie der Yoruba, die Apotheosen der Orisha. Um immer neue Aussagekraft bemüht, wandten sie sich der aus Indonesien stammenden Technik der Wachs-Batik zu. Aus diesem multikoloristischen Medium entstanden dann ihre - auch wenn man Superlativen abhold ist, unvergleichbaren Batik-Arbeiten. Die klare, kreative Bildsprache und Gestaltungskraft dieser Werke „atomisiert" gleichsam die Frage, ob es sich hier um Kunst oder Kunsthandwerk handelt. Dazu Ulli Beier: „Equally well known (wie die Skulpturen und Schreine im heiligen Hain von Oshogbo) are perhaps Susanne Wenger's batiks, which celebrate the lives and fates of the great Yoruba Orisha in large textiles, as luminous as stained windows.”

Inzwischen war Susanne Wenger in Ede, Ilobu und Oshogbo mit dem Shonponna-Kultkreis in Berührung gekommen. (Shonponna, der wildeste, geheimnisvollste und vielleicht mächtigste Orisha). Ein Haus im „brasilianischen Stil“ in Oshogbo war ihre neue Heimstätte geworden. Es ist das letzte und schönste Werk eines bekannten Yoruba-Baumeisters. Dieses Haus bewohnt sie noch jetzt.

Ihre eigene Bautätigkeit begann in den frühen Sechziger-Jahren mit der Rekonstruktion eines verfallenen Tempels des Shonponna-Kultkreises, dem Idi Baba. Eine Gruppe von Tischlern und Maurern arbeitete mit ihr. Erste Figuren und Plastiken aus Zement entstanden. „In dieser Zeit sind Termiten in den uralten Oshunschrein gekommen und haben ihn in kürzester Zeit fast zerstört. Die Iya-Oshun (Iya = Mutter - Oberpriesterin des Oshun Kultkreises) aus Oshogbo, die jetzt schon lange tot ist, hat nach mir geschickt. Ich soll helfen.“

Langsam, durch das Vorbild Susanne Wengers angeregt, entwickelten und entdeckten Handwerker aus Oshogbo, die an der Restau­rierung des Flussschreins teilnahmen, ihre ei­genen kreativen Fähigkeiten. „New Sacred Art“, ein Wenger-Terminus erfüllte sich mit Leben. Holzschnitzer, Bildhauer, Batikkünstler fan­den sich zusammen und brachten ihre ererb­ten Fähigkeiten ein. Der Oshogbo-Stil wurde ein Qualitätsbegriff. Die bekanntesten Künst­ler Nigerias weisen auf Mama Adunni (Adun­ni Olorisha = Ritualname Susanne Wengers) als ihre künstlerische „Mutter" und Lehrerin hin, auch die übrigens, die von ihr nicht so hoch geschätzt werden. Unbestritten bleibt der starke Einfluss Susanne Wengers auf viele junge afrikanische Künstler. Ihre Sammlung von „New Sacred Art" lässt das Haus in der Ibokun-Road beinahe aus den Nähten plat­zen. Das wäre allein auch gut möglich durch die vielen Kinder, die sie rituell aus den altein­gesessenen, zerfallenen Priesterfamilien adop­tiert hat, die sie ernährt und zur Schule schickt. Sie versorgt auch die alten Leute der erweiterten „Adunni-family". So ganz nebenbei…ungewollt (? ),- vorgezeich­net (?) - war in ihr und mit ihr, die alles wach­sen, werden, sich bewegen lässt, die nicht vor­ausplant, ein geniales, vorbildliches Konzept eines „Gesamtkunstwerkes“ entstanden, ein Kontext, der eine Zusammenarbeit mit ande­ren einheimischen Künstlern erlaubt, ermög­licht, ja notwendig macht. Ein Konzept aller­dings, für das sie aufgrund ihrer Einstellung, dass nämlich alles passiert, weil es passieren muss, jede Verantwortung zurückweist. Seit 25 Jahren baut sie jetzt an diesen Schrei­nen. Die kühnen Konstruktionen ihrer Skulpturen sind informell im Einklang mit den Na­turformen, fließende Formen, die „teilweise in die Erde zurück und teilweise in die Wolken hineinwachsen“.

Die in ihrer Massigkeit fast schwebende Figur der Iya Moopo, der longe­nisch sich in den Himmel reckende Ela (ist der Jünglingsaspekt des Orakelgottes Ifa), lianen­artig verschlungen die die Allegorie des Alaje­re-Mythos beherrschen (Alajere ist die jugendliche Form Shon­ponnas), ordnen sich ein in die letzten Reste eines urzeitlichen Waldes. Das Ogboni-Kulthaus (Ogboni = Kult der Erde) entstand aus einer ehemaligen Schule, die fast völlig niedergerissen wurde und von der nur die Rückwand blieb, gemäß einer Yo­ruba-Tradition, die besagt, dass von allem, was man zerstört, ein Same zurückbleiben soll. Susanne Wenger ist führendes Mitglied dieser spirituell und auch politisch sehr einflussrei­chen Kultgruppe.

Eine jahrelange Initiationszeit verbrachte die Künstlerin in dem Gebäudekomplex des Ala­jere-Schreines. Hier verliert die Unterschei­dung der Begriffe Architektur und Plastik endgültig ihre Bedeutung. Drei Meditations­räume und ein Altarraum sind durch höhle­nartige Gänge verbunden und lösen Erinne­rungen an die Kammern der gewaltigen Dol­men und Allées couvertes in der Bretagne aus. Nach einer längeren Pause begann sie, in der Mitte der Siebziger Jahre wieder zu malen: Ölbilder - einige davon wenden sich wieder Themen zu, die auch in Europa sehr akut sind, wie Umweltverschmutzung (Birds Fall Down) und Atomangst (No Nuclear News). Das Hauptbestreben liegt aber in einer Vertie­fung der Aussage und Ausstrahlungskraft.

1985: Trotz Schwierigkeiten mit der lokalen Moslempartei vollendet sie ein Hauptwerk ihrer Batikkunst, eine neuerliche Verherrlichung der Orisha-Religion, die für sie eine Symbolkraft für alles Menschliche beinhaltet. Seit Jahren geht die Künstlerin Susanne Wenger in die heiligen Haine von Oshogbo, um dort an einer fast geheim gehaltenen Stelle am Fluss Oshun, Zement, rote Erde und Wasser zu mischen und einen, von höchster Konzentration getragenen Arbeitsprozess fortzusetzen. Flusssteine, Muscheln, Kauris und Palmkerne akzentuieren symbolträchtig die weittragenden, bewegten Formen der neuen, großen Skulptur.

Dieser Katalog mit vielen Abbildungen kann noch um € 25,- in der Susanne Wenger Foundation erworben werden.