Ein Leben mit den Göttern

Auszug aus dem Buch, Text von Susanne Wenger
© 1980 Gert Chesi. Perlinger Verlags Ges.m.b.H., vergriffen

Es gibt ein Wort - láé-láé -, das in die mul­tidimensionalen Räume und Sphären des Denkens und Fühlens vordringt und dort unser archaisches Ich engagiert. In diesen Tiefen und horizontlosen Weiten sind Sein, Tun und Haben eins und durch das Yoruba-Wort Ní (oder Lí) ausgedrückt. Nach dem Wörterbuch bedeutet láé-láé einst, vor langer, langer Zeit. Doch dar­über hinaus steht láé-láé auch frappant genau für jene Zeit-Raum-Psychentie­fe-Relativität (oder -Komplexität), ohne die der lebende Mythos einer Kultur sowie der lebende Mythos der individuellen Kreatur des Menschen kein Mythos wäre, sondern Statistik, ein mechanischer und leider auch nur linearer Ablauf.

Kunst und Religion - was fast das gleiche ist - existieren láé-láé und erfassen die Realität oder die Manifestation einer Rea­lität in archetypischer und einmaliger Dimension.

»Der Mensch ist vielleicht halb Geist und halb Materie, so wie der Polype halb Pflanze und halb Tier ist. Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe«, sagt Georg Christoph Lichtenberg. Sowohl unsere Yoruba-Gottheiten als auch Olórìsa sind durch Lichtenbergs Aussage als solche »seltsamste Geschöpfe« bezeichnet und erkannt. Das gilt auch für den Künstler und ist die Antwort auf die Frage nach dem Grund meiner spontanen Selbstbeheima­tung mit den Yoruba und im »Yoruba­Himmel«, welche sich vor nun fast dreißig Jahren vollzogen hat.

Die schicksalhafte Begegnung mit Ajage­mo, dem hohen Priester von Obatálá, ereignete sich unmittelbar und total. Wie den verlorenen Sohn nahm er - oder Òrìshà durch ihn - mich auf. Ihm sowie meinen anderen spirituellen Vätern und Müttern begegnete ich wie auf vorbestimmten, in­einander verschlungenen Straßen. Das ge­genseitige Verständnis vollzog sich jenseits von Raum und Zeit und bald pflasterten psychische Lasten und Leiden ritueller Anforderungen diese Straßen ebenso dicht wie die Freuden des „vorauserinnerten“ Wiedersehens mit jenen herrlichen Men­schen im Rahmen archaischer Gegeben­heiten. Sehr viele dieser „ritualfrohlocken­den“ Geist-Materie-Geschöpfe sind nun tot, andere leben noch. Die Yoruba-Kultur lebt so lange, so lange es sie noch gibt. Selbst ein einziger würde diese totale Yo­ruba-Realität vollkommen verkörpern.

Láé-láé ist auch die Nabe, auf der die Welt-Geist-Materie-Schaukel schwingt. Òrìshà, ein Gott, will Mensch sein, der Mensch will Gott sein. Kunst und Ritual sind die Brücke über die Kluft, die die Zivi­lisation zwischen den Dimensionen totaler Realität aufreißt. Der Mensch begegnet selbst in der Trance dem Gott »durch die Sinne« (Willian Blake). Prophetische Wahrsicht ist »ein der Seele innewohnendes Element« (Aristoteles). Diese »exotischen« Dinge sind also vom Menschen längst registriert und auch humanistisch anerkannt. Die Sprache der Yoruba hat sich erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit der Schriftlichkeit ergeben. Ihr - der Sprache - selbsteigener Mythos, dessen Etymologie bloß eine ihrer zahlreichen Aspekte ist, liegt nun hoffnungsvoll in den Händen einer neuen Generation von Poeten und Schriftstellern. Sie schwingt, wird gezerrt und gestoßen, um dem neuen Rhythmus den veränderten Emotionen verinner­licht-veräußerlichter Doppelwertigkeit ei­ner hektisch erlebten und formlosen neuer Freiheit und Verwaistheit Ausdruck zu verleihen. Sie zerbricht und baut sich aus den Fragmenten neu auf.

In der großen Vergangenheit autonomer Götter, die ihre Priester als Vehikel irdi­schen Daseins ritten, sorgte das Tabu für soziale Ordnung durch Mittel ethischer Hygiene, auch im Bereich der Sprache. Je­des gesprochene Wort war umgeben von einer lebenden Leibwache gewusster und nie erwähnter Tabus. Die so gesicherte sakrale Potenz der ungeschriebenen Sprache ist viel intensiver, als das in Schriftzeichen gezähmte und von grammatischen Sprachregeln gedrillte und trainierte geschrie­bene Wort es sich leisten könnte.

Selbst im mittelalterlichen christlichen Europa wurde der mystische Fluch des gesprochenen Gebetes und des sakralen Impetus der Sprache von dem sonst gerade durch seine Milde so unerhört starken heiligen Franz von Assisi gegen bürokrati­sche Verbürgerlichung glühend verteidigt. Durch einen Fluch verbrannte er Bruder Johan von Strachis, in seinem Bett schla­fend, weil er den apotheotischen Flug des Wortes, des besinnlichen Gebetes, von seiner gottgerichteten Bahn in dialektische Scholastik umzuorientieren sich anschickte. Yoruba zweifelt nicht an der magischen Potenz des Wortes. Nur Eingeweihte dür­fen sie handhaben. Beschwörungsformeln werden nicht gelehrt. In viele Jahre wäh­render Lehrzeit absorbiert man nicht nur das Wissen, sondern auch die ganze Identität des Meisters.

Von einer sehr giftigen Schlange gebissen, eilte ich zum Herbalisten, dem Pflanzen­-Zauber-Doktor, und traf ihn mit zwei Prie­stern des Erdkultes. Während ein Lehrling um Medizinalpflanzen eilte, »besprachen« die drei alten Männer meine Hand mit der zuständigen Formel. Schwarze Flüssigkeit tropfte aus der vorher unsichtbar winzigen Bissstelle. Auch eine Freundin, die im Spital erfolglos wegen eines Schlangenbisses behandelt worden war, brachte ich zum selben Her­balisten. Der Fall war bereits kritisch. Der Priester warf sich vor dem enorm aufge­schwollenen Bein nieder und »rief« das Gift, beschwor die Schlange und »bat« das Bein. Fast schon völlig erschöpft, erreichte er sein Ziel: ein Strom von schwarzem, vergiftetem Blut rann nieder, die Frau war gerettet. Ist das Schlangengift bereits im Blutkreis­lauf, gibt das andere Bein - nicht das gebis­sene - auf Besprechung hin das Gift frei. Die Schlange muss sterben, oder der Pa­tient stirbt selbst.

Die rote Schwanzfeder des Papageis ist ei­nes der nötigen Hilfsmittel des Zauberdoktors und Zauberpriesters. Der Papagei kann Worte automatisch nachsagen, ohne ihren Sinn und ihre Problematik zu verste­hen (nie lehrt man einen Papagei ein ma­gisch potentes Wort). Die Zauberkraft liegt in dem mit láé-láé geladenen Wissen, in der nicht intellektuell analysierbaren Potenz, im Rhythmus und Klang der Aus­sage. Trotzdem hat nun im Zuge der Evolution der Buchstabe als mechanische Type seine Speichen in den Fächer der sakralen Spra­che einverspreizt, der sich in den Händen der großen Mutter zeitlos öffnet und schließt. Dieses Spielding der Göttin Iyá Moòpó darf und will nicht festgehalten werden.

Fast alle Autoren, die über Yoruba-Kul­tur, das heißt Yoruba-Religion, schrieben, sind Außenseiter der einen oder anderen Art. Entweder sind sie aus aller Herren Ländern angereiste kurzfristige Besucher, Forschungsreisende, beispielsweise im Dienste der vergleichenden Psychopatho­logie. Sie glauben, des Gottes Wesenheit mit Hilfe des Elektroenzephalographen in der Parageographie des menschlichen Ge­hirns aufspüren zu können. Oder es sind von Dolmetschern, die aus den kulturell dehydrierten Klassen stammen, handge­fütterte Sammler von Märchen und My­then. Oder Händler, die ihre Ware, meist gestohlene »Eingeborenenkunst«, katalo­gisieren wollen. Sie alle packen meist in die geistigen Rucksäcke ihre von zu Hause mitgebrachten Theorien wieder ein - adaptiert durch ihr als Dolmetsch ge­schäftiges Gehirn und gefilterten persönlichen Erlebnissen.

Zum Teil sind diese oben erwähnten Auto­ren - ethnisch selbst Yoruba - in Missions­schulen misserzogene Pastoren. Als eklek­tische Pfadfinder des Fortschritts und der »Evangelisation« suchen sie das metaphy­sische Kampfgelände der Ideologien nach möglichen Löchern ab, nach Möglichkei­ten, um dem heiligen Erbgut und ihren eigenen, ihnen innewohnenden Ahnen, Göt­tern und Idealen ihrer leiblichen Väter und Mütter endgültig den Garaus zu machen. Sie sind unbarmherzig wie jene von siegreichen Kriegerameisen schon als Eier erbeuteten, von ihnen aufgezogenen und trainierten Sklavenameisen, die - wie uns geduldig beobachtende Naturforscher berichten - in späteren Kriegsunternehmun­gen ihrer Herren gegen ihr eigenes Volk mit besonders hingebungsvoller Grausam­keit fanatisch tapfer kämpfen. Augenzeugen leben noch und bestätigen die Berichte über Pogrome, die sich gegen die traditionelle Religion der Yo­ruba - besonders des Kultes von Sònpòn­ná (lieber Obalúayé genannt) - richteten. Diese metaphysisch enorm potente Gott­heit nimmt im Gesamtkomplex der Kulte eine dramatische Schlüsselposition ein. Dieses Gottes explosives Symbolgut wurde aus den dunklen Räumen der Schreine - und des rituell abgeschirmten Unterbewusstseins der Gläubigen - ans Tageslicht gezerrt, so wie auch die sie besitzenden und handhabenden Priester an ihrem schön geflochtenen Haar auf Marktplätze gezerrt wurden, wo sie nicht nur misshandelt, son­dern auch gezwungen wurden, dem Autodafé der ihre Ideale darstellenden Kunst- und Kultgegenstände zuzusehen.

Eine Art psychologischer Pogrome findet auch in unserer angeblich von gesetzlich garantierter Freiheit zur Ausübung jeder Religion geschützten Ära statt. Aus star­ken Lautsprecheranlagen, die außen an vielen Moscheen angebracht sind, be­schimpfen, befluchen und profanieren mi­litante Mohammedaner die Götter und Priester ihrer eigenen Tradition. Von lukrativem Verkauf ermutigter Tem­pelraub bringt traditionelle Gläubige um ihre Altäre, ihre Schreine und um ihre sa­krale Kunst. Dies ist jedoch in sehr ver­schiedener Art und Weise nicht nur auf dem internationalen Kunstmarkt, sondern auch von dem Kunst erzeugenden Volk selbst höchst bewertet. Und auch innerhalb dieses Volkes - leider - wieder in unter­schiedlicher Art und Weise, denn: der Priester und der Eigentümer - nicht unbe­dingt immer die gleiche Person - schätzt sein Altarbild wie der Pfarrer sein Kruzifix, doch der Dieb schätzt es als verkäufliche Ware.

Der Priester des Gottes Ore, ein langjähri­ger Freund, stürmte einst, sein sonst fein geflochtenes Haar aufgelöst wie das einer Witwe, ins Haus, warf sich auf den Boden und keuchte: »Man hat Ore gestohlen!« Wir unternahmen sofort die üblichen meist nutzlosen Maßnahmen mit Polizei und Be­hörden. Am nächsten Tag erschien er wieder. Traurig gefasst sagte er: »Àdùnní, un­ternimm nichts mehr, der Dieb ist mein Sohn.« Dieses Erlebnis erklärte mir auch, warum die Òrìshà die christlichen und mohammedanischen Abtrünnigen und Ikonoklasten nicht einfach vernichten oder mit ihrer sakralen Energie ausschalten: sind sie doch alle Kinder des einen oder anderen Òrìshà, prägenetisch, transdimen­sional und unwiderruflich gezeugt und in den Zyklus irdisch organischen Daseins reinkarniert, sie sind also selbst eine pervertierte Form von Òrìshà. Das Trauma sol­cher Enttäuschung kann ihren Lebenswil­len zeitweise oder endgültig zerbrechen. Dabei steht jener traditionsfeindliche Fanatismus und jene ideelle Unduldsamkeit in krassem Gegensatz zu der für die Yoru­ba-Mentalität so typischen magisch-mysti­schen Kräfte-Ökonomie. Derzufolge ist alles, was transzendente Energie (Ase) spei­chert, ausstrahlt und sich rituell abzapfen lässt, brauchbar. Niemals vernichtet Yoru­ba, was in den eigenen sakralen, paraphernalen Haushalt eingeordnet werden kann. Eroberte oder im Zuge einer Migration aufgelesene Götter bzw. Gott substitu­ierende heilige Zaubermedizinen werden adoptiert und in den prinzipiell alles be­inhalten wollenden Himmel befördert. So mancher wichtige Yoruba-Kult ist nicht Yoruba-Ursprungs.

Noch einmal auf unsere Yoruba-Autoren zurückkommend: Sie schreiben fast alle (bis auf Wáńdé Abímbólá) in den Vergan­genheitsformen über all das, was sie als historisch überholt zu betrachten wünschen, nämlich den transzendenten zeitlosen Quell ihres Daseins. Yoruba ist nicht nur ein ethnischer Begriff, Yoruba ist ein spezifischer Aspekt totaler Existenz. Unsere Ära sitzt kulturell allem An­schein nach zwischen zwei Stühlen - be­sonders in den sogenannten »Entwick­lungsländern«. Doch möge uns Lao-tse mit dem Tao-te-king trösten: »Der Raum zwischen Himmel und Erde gleicht einem Bla­sebalg. Der Umriss verändert sich, aber nicht die Form. Je mehr er sich verändert, um so mehr bringt er hervor.«

Ein Oríkì (Preislied) des Òrìshà Olúgúnnà heißt: »Ewìrì ní ikú«, der Tod ist ein Blasebalg. Oft wird die Frage gestellt, in welche Pro­portionen sich die drei Religionen, denen die Yoruba-Bevölkerung heutzutage folgt, teilen. Diese Frage ist ebenso aktuell, als sie unbeantwortbar ist. Es ist »respekta­bel«, Mohammedaner oder Christ zu sein, es hilft auch in der bürokratischen Karrie­re. Trotzdem haben die ethischen Ele­mente der importierten Religionen auch die unbekehrbaren Menschen zutiefst aufgewühlt. Das metapsychische Klima ist ohne Frage durch sie verändert worden, und dies wohl weniger durch die meist minderwertige Moral missionarischer Ambition als durch die elementare Er­schütterung, die die Welt durch das Er­scheinen jeder primären Materialisation Gottes - auch ohne missionarische Mit­hilfe - erfährt.

Kein bekehrter Yoruba leugnet die Exi­stenz von Òrìshà, jedoch erklärt ein Christ oder Mohammedaner, dass er nicht gewillt sei, ihnen zu dienen. Der Òrìshà sagt, wenn er klarmachen will, dass er kein Christ ist, dass er nicht »glaube«, das heißt, dass er nicht in die Kirche gehe oder dass er »Kò kírun«, die mohammedanischen Ge­bete, nicht verrichte. Doch viele gehen öffentlich in die Kirche oder die Moschee und vollführen trotzdem privat Èbò, das traditionelle Opferritual für Òrìshà.

Mein nun toter Freund Ajíbádé, der Besit­zer und Priester einer der ältesten und wichtigsten heiligen Ahnenmasken war, nahm an der jährlichen mohammedani­schen Prozession zum Gebetfeld teil. Dar­über befragt, erklärte er, dass er dies zu Eh­ren Sònpòn­nás, dessen Kind und Nach­komme Mohammed sei, tue. Sònpòn­ná ist einer jener Yoruba-Kulte, die von den Steppen des Nordens - die Yoruba nennen sie Tápà - über den Niger südwärts gelang­ten. In Tápà liegt auch der Ursprung des Is­lam, der eine viel jüngere Religion ist als jene, denen auch Mohammed und seine ihn inspirierende Frau Chadidscha vor seiner Heimsuchung durch den Engel angehört hatten. Die Yoruba-Religion ist wahrlich imstande, jede Inspiration zu integrieren.

Auch die hier erstandenen Abarten des Christentums - die »Afrikanischen Kir­chen« - bleiben Yoruba-Kulturelementen treu. Einerseits dem Urchristentum ähn­lich, sind sie allerdings metapsychologisch unterschiedlich. Die neuen gesellschaftlichen Oberschich­ten sind kulturell schlechthin ein unfrucht­barer Boden, doch besteht die nigeriani­sche Militärregierung meist aus einfachen Soldaten, die sich nie dem Volk und seiner Kultur entfremdeten. Hie und da wacht auch einer der kulturell zwischen zwei Ses­seln Sitzenden geistig auf. Ein hoher Be­amter sagte mir: » Àdùnní, bleib Òrìshà treu! Unsere Kultur [in die er mich einbe­zog] ist unser unzerreißbares Bindeglied zu Gott. Alles andere kommt und geht.«

Die Militärregierung hat den Obas, den Stadtkönigen, nahe gelegt, durch ihre traditionelle Autorität die religiösen Feste al­ler Kulte zu fördern, ihren materiellen Ob­ligationen nachzukommen und die den Priestern oft zu teueren Opfertiere beizu­stellen. Wir befürchteten eine religiös stö­rende Touristenattraktion, sie trat aber kaum ein; der Erfolg war groß und rein ri­tuell. Diese psychologische und materielle Hilfe wirkte sich geistig intensiv aus. Die Teilnahme der Bevölkerung war enorm. Obwohl rituelle Instanzen durch die hier­archische Unterbrechung der Priesteräm­ter unausgefüllt waren und sind, führten sich zeremonielle psychokinetische oder paranatürliche Manifestationen sozusagen selbst durch. Wenn auch aus der Kongre­gation gelieferte ektoplasmische Element­zufuhren nun oft fehlen, scheinen diese, durch den rituell-ethischen Antrieb be­schworen, Zeit-Raum-transdimensional von den verstorbenen Priestergeneratio­nen weiterhin beigestellt zu werden.