"Susanne Wenger über Susanne Wenger"

Aus dem Englischen frei übertragen von Wolfgang Denk, 1995

Sie wurde in einer damals noch ländlich-vorstädtischen Gartenstadt geboren, in einer Villa mit einem Garten, wo eine Gruppe monumentalen Fichten stand, prächtig rot in der Morgensonne. Eichhörnchen, die Bewohner dieser Bäume, bewegten sich rasch durch Zweige der alten Nadelbäume, von Spitze zu Spitze. Diese Fichten und eine mächtige Linde waren Susannes erste Universitäten. Ihre sargähnliche Wiege stand jeden Nachmittag unter dem Baldachin des riesigen Laubbaumes. Die übrige Welt um sie herum konnte sie kaum wahrnehmen, aber über ihr entfalteten sich die vielfach verwobenen Diagramme der Äste des alten Baumes im wechselndem Gegenlicht; Erinnerungen und gleichzeitig in die nun gegenwärtige Zukunft fokussiert, die arterienähnlich geäderte Motivik und die Multi-Dimensionalität der Ordnungskoordinaten ihrer Ölgemälde, ihrer Batik und den Skulpturen in den "Heiligen Hainen".

Die Eltern waren feine Menschen, beide begabt mit Talenten und angeborener Weisheit, beide aber durch ein Gefühl des "Zukurzkommens" beirrt von Frustrationen und Enttäuschungen, die oft talentierte Menschen befallen, die ihrer Talente nicht habhaft werden können. So war Susannes, ansonsten glückliche Kindheit, überschattet von instinktivem, heftigem Mitleid mit den Eltern, welche einander liebten, aber sich, nach gegenseitig in übertriebener Erregung geäußerter Verzweiflung, in stummen Qualen, mit Selbstvorwürfen überhäuften.

Noch als kleines Kind fühlte sie nach solchen Fluten der Verzweiflung, eine von Mitleid auferlegte Verpflichtung, wieder Harmonie herzustellen - unermüdlich versuchte sie es, immer und immer wieder. Diese frühen starken Eindrücke formten Susannes Charakter. Da Mitleid eines der ursprünglichen religiösen Phänomene ist, begann sie sich schon als kleines Kind religiös angesprochen zu fühlen. Was die Schule über Religion gelehrt hatte, lehnte sie allerdings wegen der ihr zu gering erscheinende Wertschätzung Jesus', der in ihrer kindlichen Vorstellung ihr älterer Bruder war, als unzulänglich ab. Jahre später, gleichzeitig mit ihrer individuellen "Transmutation" in den Status "Künstler zu sein" und in den Status "Mensch zu sein", entwickelte sich in ihr eine außerordentliche dynamische und eucharistische Urkraft und diese war und ist: "DAS SCHÖPFERISCHE LEIDEN DURCH VERHINDERTE HEILIGKEIT". Eltern sind dem Kinde heilig.

Die seit den ersten Lebenstagen entwickelte Naturbezogenheit eröffnete ihr Spiel-Räume, in welche sie sich wirklich zurückziehen konnte. Susanne Wenger lag unter den Bäumen - was sie übrigens auch jetzt noch tut - lernend und wieder erlernend was HIMMEL WIRKLICH BEDEUTET. Diese Vorstadt fügte sich übergangslos in die eigentliche Stadt Graz, in deren bis heute beinah unverändertem Zentrum sich ein vorchristlicher vitaler Kristallisationspunkt befindet, ein Kraftfeld aus ältester Zeit. Dieses ursprüngliche Kore-Zentrum umschließt in einer fast mystischen Umarmung einen berggleichen riesigen Felsen.

Der soziale Aspekt der Schule, die sie damals in Graz besuchte, hatte mehr Bedeutung für sie als die Lernfächer. Manchmal, um das symbiotische Psycho-Ingramm zu erneuern, ersetzten ihr die "Klassenzimmer" der Felsen und Bäume jene der Schule. Anfangs begierig auf das Wissen das die Schule ihr vermitteln sollte, überwogen bald Enttäuschung und Ablehnung, als Konsequenz des dem Kind aufgebürdeten Lehrplanes und der für sie fragwürdigen Routine-Informationen. Etwas älter geworden, vor und während ihrer handwerklichen und künstlerischen Ausbildung in der Kunstgewerbeschule - sie machte dort Keramik und Skulpturen aus Tonerde (sie tut das auch heute noch, da sie die von ihr in den Heiligen Hainen gebauten Schreine als Töpfe die Heiligkeit in sich tragen, empfindet) - verschwand sie oft für Wochen - unabgemeldet. Sie ging dann in die Berge, Sommer oder Winter, Frühling oder Herbst, wo sie sich in zeitweise ungenutzte, meist in größeren Höhen liegende Almhütten, weit über der Waldgrenze, zurückzog. Einsamkeit suchend, mied die junge Susanne dann menschliche Gesellschaft und suchte transkreatürliche Beziehungsebenen. Dort in der unumstrittenen territorialen Oberhoheit der Felsen, spürte sie bereits deren "creature-frequencies and rhythms", ebenso wie heute in der unmittelbaren Nähe des (Oshun) Flusses durch die heiligen Felsen. Wie karg die Vegetation in diesen Höhen auch gewesen sein mochte, lernte sie hier die Individualität der Pflanzen und Felsen verstehen, denn die von Stille erfüllte Natur spricht mit großer Deutlichkeit. Die Stille als Ausdrucksform von Natur-Intimität ist ein unersetzlicher Inhalt des Lebens Susanne Wengers geworden. Sie spricht mit der Natur, in einer die Grenzen der Wesenheiten überschreitenden (transcreatural) Artikulation, in einer Sprache, welche im Vorurteil rein menschlicher Bewusstseinsmuster nicht benennbar ist. 

Oben in diesen Höhen hatten und spendeten diese Berghütten eine unerwartet "tierhafte" Geborgenheit, Nestern oder Erdhöhlen gleich. Proviant und eine Petroleumlampe brachte Susanne Wenger im Rucksack mit. Im Winter kam sie auf Schiern, im völlig ungespurten weglosen Gelände. Im Anbetracht ihres niemals vorgefasst/festgelegten Bewusstseins-Zuganges zu Erfahrung und Form, existierten für sie keine Wegmarkierungen. Jeder Augenblick verkündete neue multidimensionale Diagramme der Objekt-Formen und deshalb fand Susanne ihre einsamen Wege fast ausschließlich mit Hilfe ihres sensitiven Unterbewusstseins. Sie verlief sich nicht, hatte keine Unfälle, Menschen vermissten sie nicht, begegnete sie hier doch Adlern und Gemsen, beobachtete geduldig und lernte unversehens die mystischen Regeln des rituellen Spiels.

Ihre EINBEZOGENHEIT ist, charakteristisch für sie, in konstanter Fluktuation. Es war so in den Alpen und auch in den Stadtwildnissen von Wien oder Paris, im Atelier, Elendsvierteln oder in der Konzerthalle. Leben lebt sich selbst! Die meta-intellektuellen Räume ihres Bewusstseins sind und waren immer überflutet von natürlichen Kraftreservoiren der Heiligkeit. Wie ein verzweifelter Schwimmer in entfesselten Fluten schwimmt die Seele in Heiligkeit oder sie vergeht. Religiöse Unabhängigkeit ist für sie Einsamkeit. Susanne Wenger gehört allen Religionen oder keiner. Ihre Frömmigkeit gehört den heiligen innersten Quellen des Lebens, von wo aus alle Religionen wie die Wurzeln der Bäume wachsen. Wie jeder Organismus hat diese Freiheit ihre unverbrüchlichen organischen Regeln. Diese organischen Regeln erfuhren eine gänzlich unbeabsichtigte Geburtshilfe, in ihre - Susannes - irdisch einbezogene (earthly involved) Existenz, paradoxerweise in unbeholfen schulmeisterlicher Wirksamkeit, in den ersten Stunden des selbstgerechten evangelischen Unterrichts. Es war eine, allerdings sorgfältig in ihr gehütete Schock-Aufklärung, die sie in eine mystisch orientierte einsiedlerisch/einsame Beharrlichkeit versetzte. Die damals noch so junge "immer lachende Susi" ging, unergründbar für die Wahrnehmungsfähigkeit der Erwachsenen, durch innere Sturzbäche mystisch-existenzieller Überlebenskämpfe, wie ein losgerissenes Floß im wilden Bergbach. Durch absolut "natürliche" Kräfte wurde ihre Religiosität in jetzt ziemlich balancierte Bahnen gehoben, in einen mystischen Übergang von einem personalen Gottesbild zu einer absolut zentralen und dauernden HEILIGKEIT DES LEBENS (from a personal God-immage into the absolute central and enduringly SACREDNESS OF LIFE). Zu einem unendlich/unbegrenzten Form-Behälter (infinite-form-casket) - container of sacredness, einem sich nie leerenden Reservoire von reinen Symbolismen für das Sein und in Folge dessen der Kunst als Ritual. Nur solche unermesslich weiten (Projektions-) Räume können die unbändigen Dynamismen ihrer Religiosität für tragen und weitertragen (hold and forward).

Anmerkung von Wolfgang Denk: Susanne Wenger verwendet das Wort "Religiosität" als Synonym für alle dynamischen Seinsphänomene, deshalb muss es auch, will man es im Kontext der Künstlerin verstehen, im Lichte ihrer gesamten "Lebensphilosophie", diesem "gesamtkunstwerklichen Wissen" der EINBEZOGENHEIT gelesen werden. KUNST (oder wie Susanne Wenger es formuliert: "der Status des Künstlerseins" ) müsste also als das Phänomen verstanden werden, welches weit genug ist um allen ihre Erkenntnissen, Ideen und Ansätzen, ihrer Selbsterforschung und Selbsterfahrung durch "Involvment", ihres Wissensdranges und dessen Kommunikation, diesem aktiven und passiven Einbeziehen bzw. Einbringen des eigenen Selbst, eine Plattform zu bieten.