Ausnahmefrauen – Christa Hauer, Hildegard Joos, Susanne Wenger

NÖ Landesmuseum / Ausstellung
30. November 2013 bis 12. Oktober 2014
Kuratorin: Alexandra Schantl

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts – so unglaubwürdig das heute erscheint – war die Meinung vorherrschend, dass Frauen nur mit seltener Ausnahme zu großen Leistungen auf dem Gebiet der Kunst fähig seien. Spürbar gebessert hat sich die Situation der Künstlerinnen erst in den 1970er Jahren, als sie selbst gegen die Unterdrückungsmechanismen der Gesellschaft ankämpften. Mit Hildegard Joos (1909–2005) und Christa Hauer (1925-2013), beide u.a. Mitbegründerinnen der IntAkt (Internationale Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen) sowie Susanne Wenger (1915–2009), Gründungsmitglied des österreichischen Art Club, folgt die Ausstellung den biografischen Spuren von drei Frauen, die sowohl in ihrem Leben als auch in der Kunst Außergewöhnliches bewirkt und geschaffen haben. 

Textauszüge aus dem Katalog zur Ausstellung
Susanne Wenger – „Kunst ist Ritual“
von Brigitte Borchhardt-Birbaumer und Alexandra Schantl 

„Adunni Olorisha“, Weiße Priesterin, Gesamtkunstwerk
Susanne Wenger war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung – als Künstlerin, als Persönlichkeit, als Frau. Eine Konstante in ihrem Leben und Schaffen war ihr stark ausgeprägter spiritueller Bezug zur Natur. 1915 als Kind eines aus der Schweiz stammenden Gymnasiallehrers und einer k.u.k.-Offizierstochter in Graz geboren, wuchs sie in städtisch-bürgerlichem Milieu auf, ging aber lieber ins Grüne als in die Schule oder war mit den „Wandervögeln“ unterwegs. Sowohl während der Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Graz als auch später in Wien, wo sie zunächst die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt besuchte und von 1933 bis 1935 an der Akademie der bildenden Künste studierte, unternahm sie immer wieder ausgedehnte Wanderungen, zog sich zur inneren Einkehr oft tagelang in die Berge zurück, um Inspiration und Energie zu schöpfen. Selbst ihr Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime war gewissermaßen spiritueller Art und äußerte sich in der Auseinandersetzung mit Schamanismus, Psychoanalyse und den Theorien des Surrealismus. Sie verkehrte in linksoppositionellen Kreisen, war aber nicht politisch aktiv, sie half politisch Verfolgten, obwohl sie selbst in prekären Verhältnissen lebte. Die Verarbeitung all dessen manifestierte sich in surrealen, ikonografisch schwer zu deutenden Bildern, mit denen sie riskierte, als „entartete Künstlerin“ eingestuft zu werden.

Nach dem Kriegsende arbeitete Susanne Wenger als Illustratorin für eine Kinderzeitung des kommunistischen Globus-Verlags und veröffentlichte in der von Otto Basil herausgegebenen Kulturzeitschrift „PLAN“ zwei ihrer 1943/44 entstandenen surrealen Buntstiftzeichnungen, die als das Werk „eines geistig nicht normalen Menschen“ abqualifiziert wurden und für empörte Reaktionen sorgten. Obwohl Wenger als Mitbegründerin des österreichischen Art Club (1947) in die Avantgardeszene der frühen Nachkriegszeit integriert war, hatte sie das Gefühl, künstlerisch hier keinen Platz zu finden; am gesellschaftlichen Leben nahm sie wenig Anteil.

1948 wurde Susanne Wenger schließlich von einem Freund ihres Vaters in die Schweiz eingeladen, wo sie in Zürich auf den Maler und Kunsthändler Johann Egger (alias Hansegger) traf, der sie in die Gruppe Abstrakt-Konkret aufnahm und ihre Bilder erwarb. Seinem Rat folgend, zog sie 1949 nach Paris weiter und lernte dort den deutsch-britischen Sprachforscher Ulli Beier kennen – eine Begegnung, die in Susanne Wengers Leben einen Wendepunkt markiert. Beier hatte zu diesem Zeitpunkt Aussicht auf eine Lehrstelle an der Universität von Ibadan in Nigeria, wobei sich bald herausstellte, dass der Posten nur an Verheiratete vergeben würde. Also ließen sich die beiden trauen, ohne dies vorher ernsthaft in Erwägung gezogen zu haben, und brachen gemeinsam nach Afrika auf.

Die Ankunft in Ibadan war zunächst eine herbe Enttäuschung, da das koloniale, auf die europäische Kultur fokussierte Gesellschaftsleben auf dem abgeschotteten Universitätscampus in keiner Weise den Erwartungen entsprach. Ulli Beier wechselte daher an das Department of Extramural Studies, um Englischkurse in verschiedenen Städten zu halten und so mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen. Diese Lehrtätigkeit führte ihn 1951 unter anderem nach Abeokuta, wo es eine psychiatrische Anstalt gab, deren desolater Zustand ihn so schockierte, dass er und Susanne Wenger für die Patienten wöchentlich stattfindende Malkurse organisierten. Inspiriert durch Hans Prinzhorns 1922 erschienenes Buch Bildnerei der Geisteskranken, das Beier durch seinen Vater, der selbst Arzt war, gekannt hatte, zeigten sie die Ergebnisse ein Jahr später unter dem Titel „Psychotic Art“ in der Universitätsbibliothek von Ibadan. Dieses Projekt war einerseits wegweisend für Beiers Workshops, die er ab den 1960er-Jahren zur Kreativitätsförderung der lokalen Bevölkerung in Oshogbo initiierte, und belegt andererseits sein eigenes und Susanne Wengers Interesse an dem Diskurs rund um den Begriff der „Art brut“, den der französische Künstler Jean Dubuffet in den 1940er-Jahren geprägt hatte. Dubuffet verstand unter Art brut eine subversive, alternative Kunstform, wie sie nur jenseits kultureller Normen und abseits einer akademischen Ästhetik entstehen kann. Während Ulli Beier dieses Konzept weiterverfolgte und später in Oshogbo eine Experimental Art School für Laien gründete, aus der eine erfolgreiche Generation nigerianischer Künstler hervorging, fühlte sich Susanne Wenger immer stärker zur Yoruba-Kultur hingezogen.

Doch bevor sie diese näher kennenlernen konnte, erkrankte sie 1951 an offener Tuberkulose, die sie monatelang ans Bett fesselte. Während ihrer Genesung las sie anthropologische Bücher über die Yoruba und malte im Liegen auf kleinen Holztafeln fantastisch überhitzte Gestalten von greller Farbigkeit und Ekstatik. Wie die frühen Bilder zeigen, hatte sie zu diesem frühen Zeitpunkt bereits „erkannt, daß Afrikanisches sich nicht in der Darstellung einer Form, sondern in der Verwandlung der Formen, in deren tätiger Umgestaltung, […] erschließt“, was aber keinesfalls Selbstzweck sein durfte, sondern „lebensverstärkend dem Leben dienen“ sollte (Janheinz Jahn in: Beier 1980, S. 44).

Nachdem sich Wenger von ihrer schweren Krankheit erholt hatte und von einer Europareise zurückgekehrt war, zog sie in die Stadt Ede, wo es zu einer schicksalhaften Begegnung mit Ajagemo, dem Oberpriester des Lichtgottes Obatala, kam. Dieser erkannte ihr „archaisches Bewusstsein“ und wurde zu ihrem Lehrmeister und geistigen Vater: „Dieser Priester brachte mich gleich in Situationen, in denen ich nicht erst lernen konnte, sondern die ich meistern mußte. Lange bevor ich es ahnte, hat er schon gewußt, was ich machen würde. Er legte mir gleich große Verantwortungen auf, weil er spürte, daß ich von Natur aus begabt war.“ (Chesi, S. 15) Was nun folgte, war ein jahrelanger, psychisch wie physisch extrem belastender Initiationsprozess, aus dem Wenger als Olorisha, einer Gottheit (Orisha) zugehörige Person, hervorging. Dies stellte gleichzeitig eine existentielle Krise für sie dar: „Ajagemo, dieser Vulkan, […] hatte religiöse Potenzen in mir abgelagert wie in einem Altarobjekt.“ (Denk, S. 38) Ihr ritueller Name lautete fortan „Adunni Olorisha“.

Zu dem Zeitpunkt, als Wenger in Nigeria ihre wahre spirituelle Bestimmung fand, war allerdings die traditionelle Yoruba-Religion, die sich durch eine ganzheitlich-animistische Weltsicht auszeichnet, infolge der Kolonialisierung und Missionierung bereits nahezu ausgerottet, beziehungsweise galt das, was davon noch übrig war, als primitiv und rückständig. Zudem hatten sich die nach westlichem Modell erfolgte Schriftfassung der afrikanischen Sprachen und die damit einhergehende Anglisierung zerstörerisch ausgewirkt und die Entwurzelung von der eigenen Kultur forciert. Die solchermaßen systematisch betriebene Zersetzung der ursprünglichen Einheit von Religion, Kultur und Gesellschaft führte letztlich auch zum Niedergang der Kunst, da die Künstler mit dem Zusammenbruch des Gemeinwesens ihre bis dahin fest umrissene Funktion und ökonomische Basis verloren. Als im Zuge der Kolonialisierung das ethnografische und religionswissenschaftliche Interesse an der „primitiven“ Kultur erwachte, gab es diverse versöhnlich gemeinte Bemühungen, das traditionelle Handwerk wiederzubeleben. So wurden zum Beispiel afrikanische Holzschnitzer – unabhängig von ihrer Glaubenszughörigkeit – beauftragt, christliche Kunst im Yoruba-Stil zu produzieren, oder wurden an den High Schools als Kunsterzieher angestellt. Was daraus resultierte, war lediglich eine weitere Verwässerung der originären Kreativität, deren besondere Kraft und Inspiration ja an die ureigene Religion geknüpft war.

In dieser Situation richtete die Oberpriesterin der Flussgöttin Oshun einen Hilferuf an Susanne Wenger, dem die Künstlerin 1958 nach Oshogbo folgte. Aufgrund ihrer mittlerweile anerkannten spirituellen Autorität und der Erfahrung, die sie bereits andernorts mit der Instandsetzung von Schreinen gesammelt hatte, sollte Wenger den Heiligen Hain von Oshogbo vor dem drohenden Verfall bewahren. Unterstützt von einem jungen Handwerker, der ihr die Zementtechnik beibrachte, begann Wenger mit dem Wiederaufbau des nur noch als Ruine erhaltenen Idi-Baba-Schreins des Leidensgottes Sonponna, dessen Kultkreis sie selbst angehörte. Während sich Wenger bei der Architektur des Schreins an der ursprünglichen Bauweise orientierte, wählte sie für die in der Nähe platzierten Zementplastiken eine Formensprache, deren Dynamik ganz und gar nicht der skulpturalen Tradition der Yoruba entsprach.

Nach der Fertigstellung des Idi-Baba-Schreins stellte sich Wenger in den Dienst der Göttin Oshun, deren von Termiten zerfressener Hauptschrein dringend sanierungsbedürftig war. Vom Denkmalamt in Lagos mit Geldmitteln ausgestattet, beschäftigte Wenger zwei einheimische Maurer, mit denen sie als erste Maßnahme die Einfriedung des Heiligtums wiederherstellte. Dabei ermutigte sie ihre beiden Assistenten zu eigenständigen Reliefverzierungen. Als nächstes verlangte das Orakel der Göttin die Errichtung eines Portals – für Wenger eine besondere Herausforderung, da es nie ein Tor gegeben hatte und sie somit etwas völlig Neues erschaffen musste. Sie machte sich zunehmend ihre künstlerische Freiheit zu Nutze und versuchte – im Unterschied zur traditionellen Yoruba-Architektur, die auf Visualisierung der kosmologischen Bezüge verzichtet – die rituelle Bedeutung mittels der Form zu veranschaulichen. So schuf sie von den 1960er-Jahren bis in die 2000er-Jahre im und um den Heiligen Hain von Oshogbo einen Skulpturenkomplex, der aufgrund der einzigartigen Symbiose von Natur, Kunst und Religion Weltruhm erlangte.

Wenger ging bei den einzelnen Projekten, denen jeweils eine spezifische religiöse Funktion zugeordnet ist, nicht nach einem vorgefassten Plan vor, sondern beschrieb den Gestaltungsprozess vielmehr als rituellen Vorgang, in dessen Verlauf sie in meditativer Arbeit die richtige Form erkannte. Deshalb bezeichnete sie ihre Kunst als „New Sacred Art“ – ein Begriff, der zugleich auf die Gruppe ihrer Mitarbeiter bezogen war, die ihr bei der Umsetzung der aus Holz und Zement gefertigten Monumentalwerke zur Seite standen. Es handelte sich dabei um einfache Handwerker, die durch die intensive Zusammenarbeit mit Wenger ihre Kreativität entdeckten und allmählich eigenständig schöpferisch tätig wurden. Charakteristisch für die im Kollektiv erschaffenen Skulpturen und Schreine sind wuchernde, organisch wirkende, mitunter sexuell konnotierte Formen, die einen radikalen Bruch mit der traditionellen Yoruba-Ästhetik darstellen. Von der Idee beseelt, die spirituelle Bedeutung der alten Kultplätze könne nur mit neuen Formen reanimiert werden, empfand sich Wenger mit ihrem in Europa verwurzelten künstlerischen Gestaltungswillen weder als Eindringling noch als rechenschaftspflichtige Auftragnehmerin, sondern vielmehr als aktiven Teil eines Ganzen:

„Die Haine von Oshogbo waren zum Tode verurteilt, doch meine Überzeugung von der inneren Wahrheit der Yoruba-Religion war so stark, daß ich als lebendiger und moderner, nicht den Traditionen unterstellter Mensch das Gefühl hatte, ich müßte eine Kraftzentrale bauen, um diese Haine zu beschützen. Das konnte ich, weil ich so stark einbezogen war, nur mit meiner Expression erreichen. Ich war ja kein Angestellter, Bauarbeiter oder Architekt, meine Ergebenheit dieser Philosophie gegenüber war keiner Frage unterstellt, sie war eine Tatsache für mich und andere.“ (Chesi, S. 20 f.)

Wengers Aktivität hatte weitreichende Folgen und war daher nicht unumstritten. Für Ärgernis bei den christlichen und muslimischen Glaubensanhängern sorgte schon allein die Tatsache, dass die New Sacred Art tatsächlich den alten Orisha-Glauben stärkte. Das führte unter anderem dazu, dass das im Oshun-Hain geltende, auf einem Pakt mit der Göttin beruhende Fischerei-, Jagd- und Siedlungsverbot, das längst ignoriert worden war, nun plötzlich wieder ernst genommen und somit einer weiteren Devastierung der Haine Einhalt geboten wurde. Wengers Arbeiten, die immer wieder durch Vandalismus bedroht waren, aber auch von europäischen Beobachtern scharf kritisiert wurden, erregten jedenfalls weit über Nigeria hinaus große Aufmerksamkeit, was wiederum ab 1976, zumal mit der Inthronisation eines neuen Stadtkönigs, die Idee der touristischen Nutzung aufkommen ließ. Wenger widerstrebte diese Entwicklung zutiefst; sie setzte alles daran, solcherlei Pläne zu vereiteln, und wandte sich an das Department of Antiquities, das den Oshun-Hain einige Zeit zuvor zum nationalen Erbe erklärte hatte. Dies war der Auftakt zu einem jahrelangen Konflikt zwischen der Künstlerin und der Regierung, bei dem vor allem wirtschaftliche und politische Interessen im Vordergrund standen. Das Fest zu Ehren der Göttin Oshun etwa, das jeden August stattfindet, wurde aufgrund der hohen Besucherzahlen sogar mit Mekka oder Jerusalem verglichen und stellt somit einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Da Oshun als Göttin der Fruchtbarkeit zugleich für Wohlstand steht, widerspricht es auch nicht der religiösen Überzeugung, aus den Feierlichkeiten zur Erneuerung des mythischen Gründungspaktes Kapital zu schlagen. In der Auseinandersetzung um die enge Verflechtung von Religion und Stadtkönigtum, die für die Kultur der Yoruba charakteristisch ist, musste sich Susanne Wenger letztlich geschlagen geben. Da sie als Kontrollinstanz bestätigt wurde, öffnete sie die Haine trotz ihrer Bedenken doch für Touristen – im Vertrauen, dass „jeder […] von selbst zum Pilger wird“ und „spürt, daß dies hier keine gewöhnliche ‚attraction‘ ist, sondern ein Raum der Andacht vor dem Leben, an dessen Atmosphäre er Anteil nimmt.“ (Brockmann/Hötter, S. 155)

In den 1990er-Jahren zeichnete sich mit der Gründung der Osun Grove Support Group und des Adunni Olorisha Trust eine Trendwende zugunsten der Künstlerin ab: Sie wurde als Pionierin einer „grünen“ Ästhetik gefeiert und ihr in Oshogbo geschaffenes Gesamtkunstwerk als postkoloniales Vorzeigeprojekt avant la lettre (Probst, S. 71). Die größte Anerkennung wurde Wenger im Jahr 2005 zuteil, als sie ihren 90. Geburtstag beging und der Heilige Hain von Oshogbo von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde. In der Begründung hieß es, Wengers New Sacred Art habe durch die Absorption der wesentlichen Prinzipien der Yoruba-Kosmologie eine Wiederbelebung des Hains im Sinne seiner ursprünglichen Bestimmung herbeigeführt. Die Kehrseite der Medaille freilich ist, dass mit dem Label „Weltkulturerbe“ erst recht der Kommerzialisierung Tür und Tor geöffnet wurde, was Susanne Wenger zum Teil auch noch erlebt hat. Sie verstarb am 12. Jänner 2009 und wurde im Sinne einer besonderen Ehrerbietung nach traditionellem Orisha-Ritus im Heiligen Hain von Oshun, ihrer selbst gewählten Heimat, bestattet.

Susanne Wengers Kunstbegriff – Spurensuche in Europa
Im Rahmen der Documenta11 im Jahr 2002 wurde der postkoloniale Begriff der „Glokalisierung“ im Sinne einer Verbindung lokaler und globaler Einflüsse auf die Kunst geprägt. Weil Susanne Wenger diesen Gedanken schon sehr früh verkörpert hatte, war ihr Werk vom nigerianischen Kurator Okwui Enwezor in die postkoloniale Schau „The Short Century – Independence and Liberation Movements in Africa“ aufgenommen worden, die in München, Berlin, Chicago und New York gezeigt wurde und neue Maßstäbe im Blick auf Afrikas Kunst setzte. Auch der Begriff des „Cultural Nomadism“ (Gilles Deleuze und Félix Guattari) trifft auf die österreichische Ausnahmekünstlerin mit Schweizer Pass und afrikanischer Wahlheimat zu. Sie bewohnte den „dritten Raum“ im Zwischenbereich zweier Kulturen. So hat sie mit ihrem Leben und Werk nach 1945 den Traum der klassischen Moderne von einer gerechten Internationalisierung der Kunst realisieren können.

Nach eigener Aussage blieb ihre Arbeitsweise auch in Afrika stets europäisch; sie habe keine Yoruba-Kunst gemacht, jedoch ihre Kreativität vom Profanen zurück in den Dienst der Religion gestellt. Es gab aber die gemeinsamen archaischen Symbole des religiösen Denkens, der Naturverbindung im zyklischen Kreislauf und aus den Tiefen der Psyche, die sie über die künstlerisch-ästhetischen stellte. Dabei nahm sie Abstand von der rein rationalen Betrachtung des Westens und distanzierte sich trotz ihrer Initiation zur Yoruba-Priesterin vom wissenschaftlichen Begriff der „Schamanin“, während der Kontext zu ganzheitlichen Theorien kombiniert mit christlichen Bildern aufrecht blieb. Durch ihren künstlerischen Synkretismus fällt es Autor_innen schwer, Wengers spirituellen Visualisierungen, die noch dazu im Teamwork mit nigerianischen Künstlern entstanden, einer kunsthistorischen Analyse zu unterziehen.

Kunst und Wissenschaft vor 1945
Der Einfluss europäischer Kunst, Literatur und Wissenschaft des 20. Jahrhunderts bleibt in Wengers Arbeiten sichtbar, da sie im Gegensatz zum „typologischen“ Zeitbegriff afrikanischer Skulpturen an der physikalisch-dynamischen Zeitstruktur des Westens festhielt. Was heute politisch korrekt „typologisch“ genannt wird, galt früher als zeitlos und in der Formwirkung statisch; stilistische Unterschiede zwischen afrikanischen Künstlern wurden zugunsten einer Generalisierung übersehen. Bei aller Absage an das materialistisch-intellektualistische Weltbild las Susanne Wenger – wie Wolfgang Denk (in einem Gespräch mit den Autorinnen) überliefert – Publikationen aus aller Welt, bis ihre Augen in den letzten Lebensjahren nicht mehr mitmachten.

Ihre Korrespondenz mit einem der bedeutendsten Mythenforscher, Joseph Campbell, ist ein deutliches Zeichen ihres weiten kulturellen Blicks und ihrer Hoffnung auf eine neue Gemeinsamkeit von Kunst und Wissenschaft. Wie der Religionsforscher Mircea Eliade hat auch Campbell ab den fünfziger Jahren – etwa in „The Masks of God“ (1962) – afrikanische Ursprungsmythen mit den Steinkreisen von Stonehenge, Mykene und der Bibel verglichen, um Verbindungen bis heute aufzuzeigen. Wie Wenger und eine ganze Generation, die aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs den Aufbruch in ein neues soziales Denken wagte, machte auch Campbell sich auf die Suche nach den Ursprüngen aller Bilder und einem für die gesamte (Kunst-)Geschichte der Menschheit gültigen Mythos.

Davor war die vergleichende, erstmals nahezu wertfreie Kulturmorphologie (vormals „Kulturkreislehre“) des Afrikaforschers Leo Frobenius bedeutend. Seine Theorie einer „Kulturseele“, der Kultur als Organismus, war vorbildlich für die Négritude, eine philosophisch-politisch-poetische Bewegung um Léopold Sédar Senghor (den späteren ersten Präsidenten Senegals) die die Gleichberechtigung der „schwarzen“ Kultur postulierte. Aus postkolonialer Sicht gilt die von Deutschen, Franzosen und Engländern favorisierte Befreiungsbewegung Afrikas als zu stark von europäischen Idealen geprägt. Die amerikanische Anthropologin Sally Price kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem die anhaltende Anonymität afrikanischer Künstler in Europa als rassistisch (Prussat/Till, S. 319 ff.). 

Das ganzheitliche Sehen
Susanne Wenger selbst glaubte an die Kunst als eine der ganzen Menschheit gemeinsame, kulturunabhängige archaische Sprache und bezog sich dabei vor allem auf die Archetypenlehre des teils umstrittenen Schülers Sigmund Freuds Carl Gustav Jung. So sind Wengers „voraus erinnerte“ Bilder in ihrem „bäumeweisen Herzen“ als Archetypen, also Urbilder, zu verstehen. Ihr Pantheismus manifestierte sich bereits in den frühen Jahren in Graz, als sie dem offenbar unbefriedigenden Unterricht in der Kunstschule oft fern blieb und stattdessen in der Natur ihre Lehrmeisterin fand, wo sie zeichnete und malte. Die Alpen mit Baum und Fels, in die sie eine große Pietà und Schreine hineinsehen konnte wie später in den heiligen Wald von Oshogbo, waren dabei jene Archetypen, die durch ihre Kunst wiederbelebt werden sollten. In so mancher frühen, tachistisch anmutenden Zeichnung sah sie – gleichsam als zukünftige Erinnerung – die verschütteten und vergessenen Schreine voraus, die als Urbehältnisse der Fetische und Botschaften von Naturgöttern dienten und an denen die Rituale der Wiederbelebung im Jahresrhythmus stattfinden würden. Ähnlich wusste der Yorubapriester Ajagemo als einer der letzten „archaischen Menschen“ im Voraus, dass Wenger die Schreine aufbauen und den heiligen Wald wieder erstehen lassen würde, wie dies zum metaphysischen Aspekt des „Hellsehens“ gehört. 

Unübersehbar ist die Nähe zur Archiskulptur der klassischen Moderne mit der organischen Bauweise Rudolf Steiners und somit der Metamorphosenlehre Johann Wolfgang von Goethes, obwohl Wenger nie als Anthroposophin aktiv war oder als solche gelten wollte. Jedoch steht sie dem ganzheitlichen anthroposophischen Denken näher als anderen Gesamtkunstwerksideen ­– vom „Palais idéal“ („Palast der Träume“) des „Facteur“ Ferdinand Cheval (wohl eher als Werk fantastischer Außenseiterkunst entstanden) über Antoni Gaudís aus dem floralen Jugendstil erdachte Bauten in Barcelona bis hin zu Kurt Schwitters’ dadaistischem Merzbau in mehreren Varianten. Das letztgenannte architektonische Manifest ähnelt trotz seiner frühen Kapitalismuskritik – „Merz“ ist die Endsilbe von Kommerz – in seinem kristallinen Konstrukt eher den expessionistischen „Licht-Kathedralen“ Hans Scharouns, Hermann Finsterlins oder Bruno Tauts; von den vegetabilen Hybridformen einer undomestizierten Natur voller religiöser, prähistorischer Ursprungsorte aus Fels, Fluss und Baum ist er weit entfernt. In einem jedoch ist Schwitters’ Kunsthöhle mit Wengers Werken kompatibel: der zerstörten Logik. Von Schwitters auch ironisch als „Kathedrale des erotischen Elends“ bezeichnet, steht allerdings das verherrlichte Zufallsprinzip einer Sakralisierung des Sinnlosen, des Profanen, wie bei Marcel Duchamp, im Vordergrund. Bei allem Anknüpfen an die Alchemie sind religiöse Motivationen – ob im animistischen oder im christlichen Sinn – aus dem Spieltrieb der experimentierenden Moderne ausgeschlossen.

Das „Goetheaneum II“, Steiners Architektur nach Goethes Naturphilosophie, gilt als eine Art „Urschädel“, der mit modernen Materialien wie Beton auf den Raum übertragen wurde. Auch Wenger arbeitete mit Eisenarmierung und Zement; das moderne Material hinderte aber nicht an der Vorstellung einer Belebung durch den geistig animierten „Baumimpuls“. Der Geist des Symbolismus oder modernen Platonismus äußert sich in expressiven Naturformen, die Geisteswissenschaft und Kunst wieder versöhnen sollen. Spirituelle Begriffe wie das „Kunstwollen“ (Alois Riegl) und die in Wien und München um 1900 aufkeimende Kunstpsychologie der Einfühlung (Wilhelm Worringer) begleiteten Susanne Wenger als wissenschaftliche Orientierung bis zum Wiederaufbau der afrikanischen Schreine. Ihr schöpferisches Anteil-Nehmen beschreibt sie als eine Art des „Nach-innen-wie-nach-außen-Meditierens“. Das entspricht dem geistigen Prinzip am Beginn der in die Abstraktion gelenkten Moderne, aber auch der surrealistischen Avantgarde und ihrer „automatischen Handschrift“ von Psychogrammen ohne Umweg über die Logik.

Um eine sterbende Kultur zu erretten, erweiterte Wenger den künstlerischen Spontanimpetus der Moderne um die göttliche Eingebung „fast ohne eigenes Zutun“. Die Wissenschaft sah die Kunst der Naturvölker noch als gleichbedeutend mit jenen ersten Kunstwerken der Prähistorie an (man denke an Eckhart von Sydows Kunstgeschichte-Band Die Kunst der Naturvölker aus dem Jahr 1932). Dieser Sinnverwandtschaft im Geiste Jungs folgte auch Wenger. Dazu beschrieb sie das Aufdrängen künstlerischer Formen als eine geistige Übertragung, die ihr als „Laufbursch“ der Götter, als paranormale Lebenskraft oder „Mana“, vergleichbar elektrischer Energie (Bozzano, S. 13 f.), zukam und die sie durch ihre Einbezogenheit in die Kulte als kreativen Impetus auf ihre Schüler abstrahlen konnte. Die Autorschaft ist dabei unwesentlich, wichtig ist nur die Rückkehr zu den archaischen Symbolen der religiös verankerten Welt vor der Kolonialherrschaft. Dabei kann das, was Albrecht Dürer die „oberen Eingießungen“ nannte, als göttlicher Funke einer unio mystica (der Vereinigung von Gott und Mensch nach Überlieferung der katholischen Mystiker Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila) mit der toleranten Yorubareligion verglichen werden, wie Wenger es in Interviews tat.

Gemeinsame Archetypen
Die Künstlerin hat archaische Modelle wie den Baum, das Auge, Tiere wie Salamander, Schlangen oder Vögel, das Verschlungenwerden von einem Ungeheuer, die Fahrt mit einem Ritualboot, den Orantengestus und den Phalluskult in ihre Werke einbezogen, aber auch die Poesie der Gebete, den Rhythmus beim rituellen Tanz und Gesang berücksichtigt; darin unterscheidet sich das équilibre dynamique, also das dynamische Gleichgewicht, ihrer in Naturchiffren eingeflochtenen Figuren von der traditionellen Arbeitsweise der Yoruba. Doch an dieser Dynamik der Formen ihrer Schreine, Mauern und Götterfiguren stoßen sich nur wenige, und selbst die Yorubapriester akzeptieren die Neuschöpfung Wengers und der Künstler der New Sacred Art aus dem Geist der Moderne, da sie im Einklang mit Religion und Natur verstanden wird. Die Anerkennung des Heiligen Hains als UNESCO-Kulturerbe hat zwar zur Erhaltung der Kultstätte beigetragen und war der laufenden Restauration des lebendigen Kunstwerks zuträglich, hat sich aber als partiell kontraproduktiv erwiesen, da der heilige Wald ja nicht primär als Touristenattraktion dienen sollte.

Wengers Suche nach Archetypen manifestierte sich erstmals in Buntstiftzeichnungen, die 1943/44 in den Wiener Bombennächten entstanden und ein Schreckensregime wie auch den Krieg in Form von Mischwesen surreal verkleiden. Hier ist Wengers „kollektiver Wille zur Form“ nach Jung, Riegl oder Worringer, die wie die Kunsthistoriker Carl Einstein und Aby Warburg zur Erweiterung und Öffnung des Kunstbegriffs beitrugen, förmlich explodiert, sind doch eindeutige Parallelen zur damals verbotenen „entarteten“ Kunst zu sehen. „Der grüne Träumer“ verbindet den Geist Jungs mit afrikanischen Masken, Pflanzen und Orantengestus und zeigt Trance, Initiationstod und Maskierung beim Kontakt mit göttlicher Energie.

In den anderen Blättern sind Tiere die schamanistischen Hilfsgeister, die die Verwandlung des Menschen in ein wildes Tier (nach Jung ist es die Lykanthropie in den menschlichen Werwolf) im Kriegsfall veranschaulichen, darunter „Der monströse Hasenriese“, „Der Tod in Schafsgestalt“ und „Der rote Vogelpopanz“. Letzterer erinnert mit seiner Tierkrone an Kykladenidole mit ähnlichen schamanistischen Kopfgeburten. Wenger betonte immer wieder ihre eigene Nähe zu Wildtieren: mit den Giftschlangen im Wald von Oshogbo verbinde sie ein Stillhalteabkommen und die Affen begleiteten sie bei der Arbeit.

In den Blättern „Die Mörderbestien“ oder „Die vier Gebärenden“ kommen der im zyklischen Kreislauf wichtige Aspekt des religiösen Lebens mit der Natur und der Mythos des Verschlungenwerdens durch ein Ungeheuer zum Ausdruck; nach der Zerstückelung wird der Mensch im Inneren des Tiers zusammengesetzt und wiedergeboren. Wenger war sichtlich bereits in die Literatur Hans Findeisens und anderer zum Schamanismus eingelesen, wonach die nach außen verlagerten Kräfte der himmlischen Wesen in Tieren symbolisiert werden. In der Verschiedenheit der Archetypen gibt es eine grundsätzliche Einheitlichkeit – Leben und Tod gehören in diesen durch Farbenpracht stark aufgeladenen Zeichnungen im Gegensatz zu ihrem düsteren Inhalt zusammen. Der Hase strahlt das tödliche Licht zur Entzündung des Feuermeers ab, das Wenger bereits beim Einmarsch der Nationalsozialisten am roten Abendhimmel vorausahnte. In „Die Mörderbestien“ fliegen vom Rumpf abgetrennte Menschenköpfe unter dem mit Blitzen durchwachsenen gelben oder roten Himmel durch die Luft. Der Stil der Blätter ist zwischen Carl Einsteins Negerplastik (1915) und kindlicher Art brut angesiedelt, die ab 1922 auch als „Bildnerei der Geisteskranken“ (Hans Prinzhorn) und später – kein bisschen korrekter – als „Zustandsgebundene Kunst“ (nach Leo Navratil, um 1960) bezeichnet wurde. Im Fall einer öffentlichen Ausstellung wären die Arbeiten zweifellos als „entartet“ klassifiziert und konfisziert worden. Wenger zeigte sie erst nach 1945 in den ersten Präsentationen des von ihr mitbegründeten Art Club; aber auch da lösten sie noch heftige Reaktionen von Befremdung aus. Dabei sind ihre Bezüge zum archaischen Sakralen etwas völlig anderes als Zustandsberichte der Psyche. Der kosmische Symbolismus schöpft eine sinnvolle künstlerische Kartografie für Eingeweihte, das reine Psychogramm hingegen nur eine ästhetische Struktur.

Zwischen Schamanismus und Surrealismus
In der zeitgenössischen Kunsttheorie setzte sich Carl Einsteins Text Negerplastik kritisch mit europäischen Vorurteilen auseinander und war von großer Bedeutung für die Künstler_innen des Art Club. Wenger kannte ihn wahrscheinlich schon früher durch den von Nationalsozialisten verschleppten Besitzer des Antiquariats Bücherschwemme in der Wiener Kärntnerstraße. Bevor der Antiquar nach Auschwitz deportiert wurde, landete eine Menge verbotener Literatur über die Philosophie des Ostens, den Schamanismus und die Kulturanthropologie in Wengers Atelier. Ab Paul Gauguin suchte die westliche Kunst einen Ausweg aus der Stagnation illusionistischer Salonmalerei durch Reanimation von außerhalb Europas sowie durch Einflüsse aus der Vorzeit. Es war auch die Loslösung von der Vernunft, die den Symbolismus und den Kubismus zur Abstraktion durchbrechen ließ. Der Expressionismus und der Surrealismus konnten sich schließlich nach der Unterbrechung durch das Kunstdiktat des Nationalsozialismus weiterentwickeln.

Susanne Wenger bewahrte sich durch das ganzheitliche Denken Jungs und Steiners, deren Theorien im Nationalsozialismus weitgehend verboten waren, sowie durch ihr Festhalten am Symbolismus und am Surrealismus einen breiten künstlerischen Horizont, der bis in die Prähistorie – zu Aristoteles, den mittelalterlichen Mystikern und anderen Wegbereitern der Moderne wie William Blake – zurückreichte. Blake, den Wenger ebenso wie Steiner öfter zitierte, suchte als Visionär eine Welt aus dem alten Volksglauben zu erschaffen und lehnte die empirische Moderne zum einen ab, war aber zum anderen als Revolutionär ein politischer Vorkämpfer für die Eigenbestimmung der Frauen. Seine Schriften und Bilder waren für den Surrealismus von großer Bedeutung, seine Archetypen nahmen die Jungschen Gegensätze vorweg (bei Jung kommt zu den Mischwesen aus Tier und Mensch der Gegensatz der mütterlichen Frau und grausamen Verführerin dazu, der auch die kühle Männerschmiede der Surrealisten um André Breton faszinierte).

Vom Surrealismus und von Steiners „klingendem Kosmos der geistig wirkenden Wesen“ ist es zur Parapsychologie nicht weit. Die übersinnliche Welt der Hellseherei braucht „Geistesaugen“, die aus dem Seelenleib blicken, wie in den späten Skulpturen des Gesamtkunstwerks Wengers der Fall. Der Schleier von Tabu und Sprachskepsis legt sich über die von Materialismus und leerer Transzendenz befreiten Werke. Die Respiritualisierung – auch im Sinne des Bewahrens einer Aura für das Kunstwerk, deren Verlust Walter Benjamin 1936 für die Moderne beklagte – ist aber der Unterschied zum intellektuellen Spiel der Surrealisten und ihrer künstlichen Entsprechung in der Maschinenästhetik.

Wenger interessierte sich aber auch für die in der Nazizeit verbotene Zwölftonmusik Josef Matthias Hauers und des emigrierten Arnold Schönberg, die in den Wiener Jahren Johannes Ittens 1916–1919 Kontakt hatten. Itten brachte die ganzheitlichen Ideen, die Lehre der Polaritäten und fernöstliche Philosophien wie die indische Mazdaznan-Lehre oder den Taoismus von Wien ans Bauhaus in Weimar. Ein weiterer mystisch angehauchter Lehrender am frühen Bauhaus war Paul Klee, mit dem Wenger nach 1945 in der Schweiz zusammentraf.

Absage an den Marxismus
Auf der Suche nach Alternativen wie den Jungschen Archetypen fand Wenger Inspiration in der Bekanntschaft mit Künstlern im Widerstand: Maria Biljan-Bilger etwa griff in scheinbar harmlosen Keramikfiguren matriarchalische Aspekte nach Johann Jakob Bachofen auf, die Jungs Gegensatz-Theorien wohlgemerkt nicht immer entsprachen. Im kommunistischen Kreis um Heinz Leinfellner war auch die ab 1933 mit August Aichhorn in einem Wiener Heim für schwer erziehbare Jugendliche tätige Freundin Elisabeth Charlotte „Goldy“ Parin-Matthèy, die als Anarchistin im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und zusammen mit ihrem Mann Paul Parin das neue Fach der Ethnopsychoanalyse begründete. Das Paar war später mit Fritz und Ruth Morgenthaler auch in Westafrika unterwegs und publizierte über das Seelenleben der Jogon: Die Weißen denken zu viel (1963).

Ebenso wie Wenger es ablehnte, als Anthroposophin zu gelten, konnte sie sich – bei aller Sympathie für Karl Marx – nicht mit den realen Bedingungen in der Kommunistischen Partei anfreunden. Das lag wohl auch am „para-religiösen“ Charakter, den Mircea Eliade der Bewegung nachgesagt hat. In die entsakralisierte Moderne und die im 19. Jahrhundert daraus geborene Ideologie des Marxismus schlich sich der jüdisch-christliche Erlösungsglaube ein. Auch wenn Gott durch die Eigenverantwortung des Homo faber ersetzt wurde, galt es die proletarischen Massen durch den gerechten sozialen Kampf zu erlösen und die Welt zu verbessern. Marx lehnte die Rückkehr zur angeblich klassenlosen und unverdorbenen Urzeit ab; er hielt den prähistorischen Menschen für roh und sah keinen wahren Mythos in Form eines Schöpfungsereignisses in dieser Epoche. Eliades These vom Marxismus als „Para-Religion“ ist sogar auf die heutige hedonistische Freizeitgesellschaft materialistischer Prägung übertragbar, werden wir doch zweifellos von Wirtschaft und Geld beherrscht. Allerdings suchte Wenger die Naturreligion nicht durch ein utopisches Modell in Europa zu ersetzen, sondern wagte den Aufbruch in eine afrikanische Kultur, in der sie sich besser verstanden fühlte als in der künstlerischen Avantgarde.

Kunst und Wissenschaft nach 1945
Durch die Gründung des international ausgerichteten Art Club in Wien im Jahre 1947 traf Susanne Wenger auf Ernst Fuchs und Friedrich Stowasser (alias Friedensreich Hundertwasser); mit beiden verband sie neben einem ganzheitlichen Anspruch und dem Blick auf das Gesamtkunstwerk die Forderung nach einer organischeren, menschlicheren Architektur als den streng geometrischen Betonbauten des internationalen Stils und der in Folge wenig durchdachten, billigen Plattenbauweise der Nachkriegszeit. Mit Hundertwasser teilte sie auch den Einbezug östlicher Philosophie in die bewusst international angelegte Gruppierung des Art Club. Ernst Fuchs, der 1959 mit Arnulf Rainer und Hundertwasser die „Anti-Akademie“ Pintorarium als Manifest einer ins Leben zurückführenden Kunst begründete, schrieb in einem Buch von 1966 vom „verlorenen Stil“ des Anfangs, den die Architektur wieder finden müsse. Auch Rainer folgte vorübergehend Ideen des Taoismus. Letzterer lenkte wie der Zen-Buddhismus Wenger und Hundertwasser in eine prozessuale, dynamische Welt- (und Kunst-)Auffassung. Der ganzheitliche Ansatz in der Natur wie in der Kultur integriert auch die negativen Prozesse von Verfall und Tod positiv – mit nachhaltiger Wirkung auf die Kunst des Westens.

Hundertwassers „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“, die kosmologische Sicht Yves Kleins in Paris, die amerikanische Avantgarde um John Cage und Susanne Wenger verbindet ein neuer, geografisch erweiterter Kunstbegriff. In dieser Zeit des „Kalten Krieges“ war seitens der KünstlerInnen ein versöhnender Blick typisch; ein über 60 Staaten umfassendes Beispiel dafür ist das Fotoprojekt „The Family of Man“ Edward Steichens.

Der Entstehungsprozess des Gemäldes „Der große Weg“ 1955 wurde von Hundertwasser als „Transautomatismus“ beschrieben. Die damit gemeinte spontane, vom Intellekt so weit als möglich abgetrennte Arbeitsweise bestimmte die Kunst der Nachkriegszeit international; dabei trifft sich das aus dem archaischen Unterbewussten Geschöpfte mit der fernöstlichen Meditation im Effekt eines semi-sakralen Vorgangs. Das Hauptanliegen war es, die Menschen im Westen durch die Rückkehr geistiger Werte in die Kunst darauf aufmerksam zu machen, dass sie die Beziehung zur Erde verloren hatten und in der ständigen Gefahr totaler Zerstörung durch das Wettrüsten lebten. Hundertwassers Rettungsversuche für Bäume, Grasdächer und die Kompostverarbeitung in der städtischen Steinwüste sind legendär; im Vergleich mit dem Erhalt sakraler Gedächtnisorte durch Wenger in Nigeria wirken diese profanen Naturgesten heute aber fast naiv.

Wie Pflanzen lässt Wenger intuitiv, wenngleich nicht ohne Vorbilder (die sie etwa in den Strömungen Tao und Zen findet), jedenfalls aber ohne vorgefasste Idee ihre Schreine und Figuren um die Bäume, Steine und Inseln wachsen; das weltumfassende archaische Wissen koordiniert auch die Mauern und Tore um den heiligen Hain. Die in den Zement gedrückten Muscheln und Steine haben eine Abwehrfunktion: sie sollen der Verletzung vorbeugen. Im Unterschied zu den genannten Künstlern hat sich Wenger letztlich als einzige konsequent und endgülig von Europa verabschiedet und sich in eine völlig neue Kultur eingefügt, während Hundertwasser zwar nach Japan ging, aber nur für kurze Zeit und mit deutlich negativen Auswirkungen auf seine späte Kunst.

Zürich – Paris – Nigeria
Nach längerem Romaufenthalt, für den sie ein Stipendium bekommen hatte, reiste Wenger 1948 nach Zürich, wo sie der Künstlergruppe Abstrakt-Konkret beitrat, zu der auch Paul Klee, Hans Arp, Sophie Taueber und Piet Mondrian zählten. Klee und Mondrian standen wie Wassily Kandinsky in der frühen Phase ihrer künstlerischen Laufbahn der Theosophie nahe. Wenger stellte ihre Bilder zunächst in der Galerie Des Eaux Vives von Hans Egger (alias Hansegger) aus und holte 1950 einige der berühmten Mitglieder von Abstrakt-Konkret zu einer Schau des Art Club in die Wiener Secession. Ihre Werkphase 1947/48 war auf Ölbilder in sehr gedeckten Farben konzentriert: Ocker-, Grau- und Brauntöne bestimmen die „Heimkehrer“, „Das Liebespaar“, „Badende“ und „Die Vögel sind nicht eingeladen“, eine schamanistische Paraphrase des Abendmahlthemas. Die Menschen haben bei diesem Mahl an einem Tisch wie die vielen prähistorischen Idole rund um das Mittelmeer oder auch am Rande des Alpenbogens Vogelköpfe, die auf die Maskierung, die Verhüllung vor dem Geheimnis des Göttlichen (Tabu) schließen lassen. Viele religiöse Überlieferungen fließen im Bild zusammen: Gottkönige erleiden dabei stellvertretend für die Gläubigen den rituellen Opfertod. Wie die Eucharistie ist das spirituelle Mahl auch kannibalisch interpretierbar – eine Faszination, die auch Hermann Nitsch nicht entgangen ist.

Die nicht ganz strenge Monochromie der Bilder Wengers erinnert an die religiös motivierten Fastentücher („Tüchleinmalerei“) des Mittelalters. Diese Thematik wie die Farbarmut hängen stark mit Erinnerungen an die schrecklichen Kriegsjahre zusammen; die surrealistischen Aspekte werden in Wengers Werken mit konstruktiven Elementen verbunden.

Die Jahre 1949/50 verbrachte Susanne Wenger in Paris, orientierte sich dort aber weder an den in streng altmeisterlicher Malerei festgefahrenen Surrealisten noch am „rasiermesserscharfen Intellekt“ (Wenger) und der Ästhetik der École de Paris. Ihre Mischung von abstrakten und figürlichen Elementen mutet sehr innovativ an, wenn man sie mit den abstrakten Arbeiten der in Wien verbliebenen Künstlergruppe des Art Club vergleicht.

Wichtiger scheint für Wenger – neben ihrer Begeisterung für Gespräche mit den Clochards an der Seine – die Orientierung an den Plastiken der Bildhauerin Germaine Richier. Deren Ausläufer surrealistischer Ideen durch Verdrahten und Verspannen von menschlichen wie animalischen und vegetabilen Foren, auch zu Torsi, erweckt zuweilen den Eindruck gespannter Netze von Nervenlinien. Richiers Mischwesen sind wie später jene Wengers in Interaktion, wirken bedroht, auch entfleischlicht, was auf die schamanistische Tranceerfahrung des Fleischverlusts bis auf den Knochen hinweisen könnte. Blicke sind der Französin ebenso wichtig wie Wenger, und die Suche nach archaischen Wissensquellen scheint weiters mit Hybridformen angesprochen: Insekten wie eine Gottesanbeterin als Orakeltier verweisen auf eine undomestizierte Natur, vorlogisches Denken scheint die durch den Zweiten Weltkrieg in Misskredit gebrachte rationale Denkfähigkeit als Gefahr zu entlarven. Der Rückblick auf eine unverdorbene Natur interessierte Wenger ebenso wie die Transformationen der Naturmaterie, das Verdorren und Absterben. Im Spätwerk Richiers scheint gleichfalls Goethes Metamorphosenlehre und wahrscheinlich auch die Anthroposophie in einem dynamischen Lebensprinzip kosmischer Dimension mitzuschwingen.

In der sehr physischen, impulsgelenkten Arbeitsweise des Action Painting und des abstrakten Expressionismus in den USA, aber auch im Tachismus oder Informel in Europa spiegelt sich der Impetus der Bleistiftzeichnungen wider, die Wenger vor dem Krieg in der steirischen Umgebung angefertigt hatte, sowie ihr Bedürfnis, die Konventionen der Malerei, des Bildes und des Ateliers zu überwinden. Maria Lassnig, die neben Wenger auch bei Ferdinand Andri studiert hatte und als „entartet“ galt, kam mit Arnulf Rainer nach Paris; sein rituelles Schwärzen des Bildes nach mystischen Vorbildern der frühchristlichen „negativen Theologie“ und seine kurze Orientierung am Taoismus gehen – vergleichbar mit Wengers Resakralisierung – vom Psychischen weiter ins Rituelle; doch das vollzieht sich bei Wenger im öffentlichen Raum in Nigeria, wo sie ab 1950 lebte.

Nach ihrem Umzug nach Nigeria kam Wenger nur noch zu Ausstellungen nach Europa und später zum Verkauf ihrer Bilder und Batiken, um Geld für ihre großen Projekte in Nigeria zu sammeln. Wie weit sie in Gesprächen mit den Protagonisten der Avantgarde selbst anregend wirkte, ist unerforscht. Ihre eigenständige Rolle war mit den Problemen der in Österreich tätigen Christa Hauer oder Hildegard Joos, mit denen sie in Kontakt blieb, in keiner Weise zu vergleichen. Sie distanzierte sich später auch vom eurozentristischen Blick ihres Partners Ulli Beier, der den Gedanken nie aufgab, die Welt zu verbessern, zumindest in Afrika.

Profane Gärten und heilige Haine
Einige Überschneidungen und Ähnlichkeiten gibt es, wie bereits erwähnt, zwischen Wengers Werk und der Art brut von Jean Dubuffet. Dabei ist nicht nur die raumgreifende Archiskulptur zu erwähnen, der er sich in der Natur erst relativ spät, besonders in seinem „Jardín de Invierno“, gewidmet hat, sondern auch seine Prämisse, die Kunst völlig neu und unverbildet, unakademisch und antiintellektualistisch, durch Anregung von Laien, Kindern, Naiven und Behinderten zu erfinden. Er entwirft Höhlen und Labyrinthe, die den experimentellen Gärten und begehbaren Skulpturen von Niki de Saint Phalle ähnlich sind. Mit der durch die Vagina betretbaren Figur „Hon – en katedral“ („Sie – eine Kathedrale“) samt Kino und Bar in Bauch und Busen konnte Niki de Saint Phalle 1966 im Museum für Moderne Kunst in Stockholm das göttliche Prinzip der Welt mit Hilfe einer weiblichen Gestalt wie in den Naturreligionen erfahrbar machen. Der archetypische Weg der Rückkehr in den Mutterbauch der Erdgöttin (Berg oder Grabhügel) nach dem Tod wurde hier in einem Kunstwerk nachvollziehbar gemacht. In ihrem Spätwerk, zumal im Tarot-Garten, setzte sie Ideen um, die damals noch als skandalöser Unsinn abgetan wurden.

Beide Künstlerinnen stellten die Metaphysik über die ’Pataphysik des Surrealisten Alfred Jarry. Der Nonsens ist eine Parodie auf die Methoden der modernen Wissenschaften, aber mit den „Nanas“ von Saint Phalle kehrten die weiblichen Archetypen der „Großen Mutter“ in fröhlicher Buntheit zurück. Vergleichbar ist dies mit Wengers Schreinen und Figuren zu Ehren der Erdgöttin der Yoruba.

Die Matriarchatsforscherinnen der Nachkriegszeit, darunter Susanne Wengers Freundin Luisa Francia, polemisierten gegen Jung, da er die Frau nicht als schöpferisches Wesen gelten ließ. Deshalb rückte die ganze feministische Bewegung nur am Rande in Wengers Blickfeld. Wenger fühlte sich in ihrer persönlichen Auslegung als Frau stets schöpferisch und „berufen“ und meinte, dass das Matriarchat in Jungs Gegensätzen ohnehin zeitlos vorhanden und immer reaktualisierbar sei, die Feministinnen wüssten das bloß nicht; auch würden die Feministinnen in ihren Analysen die Ganzheit der Wahrheit vermissen lassen, wenn sie auch zu Recht den „patriarchalischen Plunder stigmatisieren“ (Brockmann/Hötter, S. 143).

Durch die verstärkt auf die Ur- und Frühgeschichte ausgerichtete Forschung entstand eine unsichtbare Verbindung zwischen der „automatischen Handschrift“ der Surrealisten und den „Maccaroni“-Linien (Breuill) in den Steinzeithöhlen; auch Georges Bataille und die Strukturalisten besinnen sich auf die Frühgeschichte. Die Folge ist eine neue Sicht ohne die europäische, so zerstörerische Fortschrittsidee im Sinne einer auf die Endzeit ausgerichteten Glaubensreligion. Der Mensch nach 1945 musste auch durch die Kunst zur Kenntnis nehmen, dass die Lehre der Evolution zum höheren Wesen hin einen Rückschlag erlitt, die Zivilisiertheit fragwürdig geworden war, die Kulturverluste sichtbar wurden. Ab 1950 begann die Moderne zu bröckeln wie die Schreine der alten Naturreligionen, die bei Wengers Ankunft in Nigeria in Mistplätzen der Kolonialzerstörung versunken waren.

Kunst im direkten Kontext mit der Natur als zu erwandernde Erfahrung mit einfachen Formen ist Gegenstand der Land Art. Künstler gingen dabei aus der Enge des Ateliers über den Garten hinaus in die Weite der Wüsten, Berge oder in den Stadtraum. Die Werke waren – ähnlich den Archiskulpturen Wengers – sozialkritisches Statement und nicht für den Kunstmarkt oder den Museumsraum bestimmt. Doch auch für Konzepte wie „Lightning Field“ von Walter de Maria, die Steinkreise von Richard Long oder „Spiral Jetty“ von Robert Smithson gilt, dass sie nur semi-sakrale Aspekte haben und mit archetypischen Grundformen (Quadrat und Spirale) auf die Prähistorie zurückgreifen. Das Mitwirken der Natur integriert ihr Ablaufdatum – eine weitere Parallele zu Wengers heiligem Wald. So verbindet sich bei der Begehung das Prozesshafte – im sakralen Sinn einer Prozession durch die Besucher – mit körperlicher Erfahrung (und vielleicht, im besten Fall, einer geistigen Erleuchtung, jedoch keiner religiösen Teilhabe); das gilt auch für Werke von Dennis Oppenheim und James Turrell.

1996 nimmt Beat Wyss in „Der Wille zur Kunst“ auch die semi-sakralen Wege, Reihen, Verdoppelungen und teils im Verdacht der Alchemie stehenden Materialien von der Arte Povera bis zur Minimal-Art und Konzeptkunst ironisch ins Visier und lenkt dabei den Blick zurück auf das von den Theosophen befürwortete Atommodell, da es mit dem Antimaterialismus und der Abstraktion korrespondiert; die letztlich zerstörerische Auflösung der sichtbaren Welt geht für ihn einher mit dem Propagieren eines geistigen Lebens der Seele als Astralleib. So kommt die Epiphanie der Moderne auch aus dem Lichtglanz der gefährlichen Elektrizität und des Atommodells als stellvertretende göttliche Energie, wobei die paranormale Kraft „Mana“ zur gefährlichen „Mania“ wird. Auch Susanne Wenger spricht im Zusammenhang mit göttlicher Energie in Baum, Tier, Pflanze oder Mineral als Archetyp jenseits von Zeit und Raum, von „pränuklearer Symbol-Integration“. Denn nach Jung und den Anthroposophen unterscheidet sich der menschliche Körper nicht von der Seele – eine Vorstellung, die auch in der Literatur von Walt Whitman über Ezra Pound und James Joyce bis Allen Ginsberg in die Beat- und Hippiegeneration einsickerte. Wengers Werk hat zeitliche wie poetische Anteile an dieser „Aussteigermentalität“. Der Glaube an den Künstler als Eingeweihten in das „Große Geistige“ (Wassily Kandinsky) ist jedoch bei den meisten Nachkriegskünstlern schneller erloschen, der kommunistische „Wille zur Macht“ der Realpolitik des „Kalten Krieges“ hatte die Erlösungsgewissheit in Europa verstummen lassen. Der Witz, die Ironie und die Analyse hielten danach Einzug in der Kunst der Postmoderne, doch damit hatte Wengers Kunst keine Berührung mehr.

Fluxus und Situationistische Internationale
Mit dem in Zusammenhang mit Hundertwasser bereits erwähnten John Cage und ihrer beider Vorlieben für den Zen-Buddhismus ist auch die „Situationistische Internationale“ mit Fluxuskünstlern wie Nam June Paik und Joseph Beuys zu erwähnen: Paiks Mutter war eine praktizierende Schamanin; seine Videoskulpturen spiegeln die Prozesshaftigkeit, aber auch die typologische Zeit wider. Und Beuys sieht wie Wenger seine Initiation zum Schamanen in schwerer Krankheit und einem beinahe tödlichen Absturz und beschreibt, wie belastend das Nahtoderlebnis in später wiederholter Simulation war. Von ähnlichen Strapazen berichtet – trotz aller Tabus – auch Susanne Wenger.

Mit Beuys teilt Wenger nicht nur den sozialen Aspekt der Kunst, sondern auch ihre Resakralisierung und Erweiterung. Er war noch stärker als sie von der ganzheitlichen Sicht Rudolf Steiners geprägt. „Wer nicht denkt fliegt (sich selbst) raus“ scherzte er bewusst doppelbödig über die ständige Grenzerfahrung seines schamanistischen Daseins. Seine Aktion mit Kojote und Hase und seine Liebe zu Reinigungsritualen durch das Wasser sind, ähnlich wie bei Wenger, Kombinationen christlicher Archetypen und frühzeitlichen zyklischen Denkens. Beuys sah sich als Mann an der Schwelle zur steinzeitlichen Vergangenheit wie der Zukunft. „Man soll nie zu weit in die Geschichte hineinschauen, nie mehr als 500 Jahre in die Zukunft,“ erklärte er die Aufgabe der Kunst. Zudem bezeichnete er sich als neuen „Höhlenzeichner“ und Entdecker von Mysterien an banalen Plätzen wie einem Hauptbahnhof; dabei sei die Literatur über Schamanen von Findeisen und Eliade neben Arnold von Genneps „Rites de Passage“ eine Anregung gewesen. Als Mittler zwischen der Welt der animistischen Naturreligion der Kelten oder Skythen und unserer Zeit sah er sich in ewiger nomadischer Reise von Ost nach West. Statt eines Baumes in der Natur baute er die Weltachse in den deutschen Pavillon der Biennale von Venedig 1976 und pflanzte 7.000 Eichen in Kassel – ein sich ständig erneuerndes, weit über seinen Tod hinausreichendes Kunstwerk.

Mit Wenger verbindet Beuys die Absage an die überschätzte Ratio des Westens, nur sah er künstlerisch die Erneuerung des Denkens und der Kunst nicht aus dem Süden kommend, sondern eher aus dem Osten und dem Norden. Seine Solidarisierung mit den Schwachen der Gesellschaft ist wie bei Wenger dem Tenor der Nachkriegszeit entlehnt, stilisierte er sich doch – gleichsam als Gegensatz zum bösen Führer seiner Jugendzeit im Nationalsozialismus – zum guten und lehrenden Anführer (Sandro Bocola).

Eine Rückkehr zu Kunst als Einheit mit der Religion und dem Leben, wie bereits in der klassischen Moderne, mit Blick auf die bacchantischen Mysterienkulte der Griechen wie auch synkretistisch auf andere Religionen, bietet der Wiener Aktionist Hermann Nitsch. Die Idee zu seinem Gesamtkunstwerk „Orgien-Mysterien-Theater“ reicht in die fünfziger Jahre zurück. Nitsch teilt mit Wenger neben dem Rückgriff auf die Utopien der klassischen Moderne das prozessuale Arbeiten ohne Endpunkt, die Beachtung der Natur, einbezogen in das Werk, den Rückblick auf frühe Rituale der Menschheit wie die Bluttaufe im Mithraskult, Orakel und einige ganzheitliche Konzepte der Neuzeit. Es gibt allerdings zahlreiche Unterschiede, abgesehen von dem grundsätzlichen, dass das Werk Wengers dem Ritual und der Reaktivierung des Mythos der Geisterwelt der Yoruba dient, der theatralische Aspekt bei Nitsch hingegen dem synästhetischen Genuss eines Kunstpublikums. Doch nicht nur die Rezipienten und die Kontinente sind andere, sondern auch die jeweilige Position des Künstlers. Wenger spielte ihre Rolle als Priesterin und Künstlerin in Personalunion stets herunter, während Nitsch und Beuys als reine Kunstpriester ohne anhaltendes Überschreiten einer Grenze zum Metaphysischen zu Kultfiguren am Kunstmarkt wurden.

Jedoch steht auch Nitsch der Erneuerung der Mythen positiv gegenüber; statt der Heiligkeit des Sinnlosen in der „Kathedrale des erotischen Elends“ (Schwitters über seinen Merzbau) zu frönen, kehrt auch er im „kulturellen Gedächtnis“ (Assmann 1992, S. 48 ff.) zu den antiken Festriten zurück. Wenger erweitert mit ihrer Kunst die Sicht auf die archaischen Anfänge mit ihren primär vorhandenen Natur- und Kulturreligionen (Assmann 2006, S. 18 ff.) und deren kosmologischer Einbindung eines homo aequalis. In der reaktivierten Religion der Yoruba halten sich die Götter nach wie vor auf der Welt auf, statt wie in sekundären Glaubensreligionen von einem außerweltlichen Schöpfergott hierarchisch weit abgesetzt zu sein. Ihre Kunst hat sich zum Mnemotop, einer außeralltäglichen Erinnerungslandschaft, erweitert. Das kulturelle Gedächtnis braucht gesicherte Orte, tendiert zur Verräumlichung. „Der Hauptunterschied gegenüber dem kommunikativen Gedächtnis ist seine Geformtheit und die Zeremonialität seiner Anlässe.“ (Assmann 1992, S. 58) So gesehen füllt Susanne Wengers Kunst die Leerstelle des europäischen Auraverlusts. Wenger wechselte zudem die Seiten, drehte die Sicht um, richtete den Blick von Afrika auf Europa, womit ihre Kunstauffassung eine Vorwegnahme aktueller postkolonialer Ideen darstellt.

Literatur
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992
Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 2006
Ausst. Kat. Mythos Art Club. Der Aufbruch nach 1945 (Kunsthalle Krems) 2003
Ausst. Kat. Joseph Beuys. Schamane, Nürnberg (Kunsthalle Krems) 2008.
Ausst. Kat. Hundertwasser. Japan und die Avantgarde (Belvedere Wien), München 2013.
Ulli Beier (Hg.), Neue Kunst in Afrika, Berlin 1980
Ulli Beier, Auf dem Auge Gottes wächst kein Gras. Zur Religion, Kunst und Politik der Yoruba und Igbo in Westafrika, Wuppertal 1999
Ernesto Bozzano, Übersinnliche Erscheinungen bei Naturvölkern, Bern 1948
Rolf Brockmann/Gerd Hötter, Szene Lagos. Reise in eine afrikanische Kulturmetropole, München 1994
Gert Chesi, Susanne Wenger. Ein Leben mit den Göttern, Wörgl 1984
Stefan Eisenhofer/Heidelinde Dimt (Hg.), Kulte, Künstler, Könige in Afrika. Tradition und Moderne in Südnigeria, Katalog des
Oberösterreichischen Landesmuseums, Linz 1997
Mircea Eliade, Mythen, Träume und Mysterien, Salzburg 1961
Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen der Religion, Frankfurt/Leipzig 1984
Walter Kugler/Simon Baur (Hg.), Rudolf Steiner in Kunst und Architektur, Köln 2007
Kunsthalle Krems (Hg.), Susanne Wenger. Eine biographische Collage von Wolfgang Denk unter Einbeziehung von Texten
und Aussagen von Susanne Wenger und Ulli Beier, Krems 1995
Peter Probst, Osogbo and the Art of Heritage, Bloomington, Indiana 2011
Margit Prussat/Wolfgang Till, Neger im Louvre. Texte zur Kunstethnographie und moderne Kunst, Dresden 2001
Claudia Spieß, Germaine Richier (1902–1958), Hildesheim/Zürich/New York 1998
Judith Elisabeth Weiss, Der gebrochene Blick. Primitivismus – Kunst – Grenzverwirrungen, Berlin 2007 (Phil. Diss Heidelberg 2005)
Beat Wyss, Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1996